30.05.2020, Das Magazin

Wie sieht Ihre «Power-Landkarte» aus?

Diese Frage sollten Sie beantworten können, meint die Meeresbiologin Ayana Elizabeth Johnson. 

Gespräch: Stephanie Rebonati

Ayana Elizabeth Johnson ist zu Fuss unterwegs, während wir telefonieren. In New York City, wo sie normalerweise wohnt, herrscht Ausnahmezustand, deshalb hat sie sich auf den Bauernhof ihrer Mutter in Upstate New York zurückgezogen. Sie beschreibt mir die Landschaft als hügelig, von kleinen Bächen durchzogen, die Bäume treiben jetzt, Ende April, ihre ersten Knospen. Johnson macht diesen Spaziergang jeden Tag. Es ist zehn Uhr morgens, unser Gespräch ist ihr erster Termin des Tages, danach hat sie eine Besprechung zu dem Podcast, den sie lancieren wird, später will sie an ihrem neuen Buch arbeiten.

Johnson war ausserordentliche Professorin an der New York University und gilt als eine der weltweit einflussreichsten Meeresbiologinnen. Kürzlich erklärte sie in einem Interview, sie sei keine Optimistin. Was sie antreibe, sei der Wunsch, nützlich zu sein. Johnson fordert zum Handeln auf: Sie war Mitorganisatorin des ersten March for Science, der im April 2017 weltweit eine Million Menschen in über 600 Städten auf die Strasse brachte. Und im September 2019 teilte sie beim Jugend-Klimastreik in New York City die Bühne mit Greta Thunberg.

Das Magazin: Frau Johnson, das bevorstehende Remake von Disneys «Arielle, die Meerjungfrau» begeistert Sie. Sie nannten das Filmprojekt «eine hervorragende Gelegenheit, wahrheitsgetreue ökologische Botschaften ins Zentrum der Popkultur zu rücken». Hat Disney Ihr Angebot angenommen, dem Film beratend zur Seite zu stehen?
Ayana Elizabeth Johnson: Disney hat sich noch nicht bei mir gemeldet.

Wie könnte man «ökologische Botschaften» sinnvoll in der Handlung verankern?
Ich denke an die Verschmutzung der Ozeane vor allem durch Plastik. Es wäre seltsam, einen Film über den Ozean zu machen, der diesen Aspekt auslässt. Wir müssen die Erzählung weiterentwickeln, um den Zustand der Welt zu spiegeln. Der Film kam 1989 heraus, jetzt, dreissig Jahre später, wissen wir wesentlich mehr über den Ozean, und der Ozean ist viel bedrohter: Klimawandel, Umweltverschmutzung, Überfischung. Ich bin wirklich gespannt, ob es möglich ist, an der ursprünglichen Geschichte festzuhalten und dennoch anzuerkennen, dass sich so vieles verändert hat, und zwar nicht zum Besseren. Kinder sind sich bewusst, dass der Klimawandel Auswirkungen auf das Meeresleben hat.

Sie haben sicher bereits über konkrete Änderungen des Drehbuchs nachgedacht.
In der Filmsequenz, wo Arielle von «zahllosem Kram und allerlei Plunder» spricht, den sie findet, könnte man einen Hinweis auf die Verschmutzung durch Plastik einbauen. Vielleicht findet Arielle heute andere Dinge als die früheren Meerjungfrauen – die hatten nie Plastikflaschen in ihren Sammlungen. Vielleicht bemerkt ihr Fischkumpel Fabius, dass er einige seiner Fischfreunde vermisst, oder er sorgt sich um sein Zuhause, das Korallenriff. Wenn die Krabbe Sebastian singt: «Sieh dir nur die Welt um dich herum an, hier wo du schwimmst und lebst», muss er möglicherweise mit einem gezielten Tritt eine Plastiktüte oder anderen Müll verstecken. Vielleicht ist die Hexe Ursula böse, weil sie eine Managerin für fossile Brennstoffe ist, die sich für Offshore-Ölbohrungen einsetzt. Oder Prinz Eric könnte ein echter Held sein und Arielle umwerben, indem er Probleme bekämpft, die das Meer bedrohen.

Sie waren fünf Jahre alt, als Sie beschlossen, Meeresbiologin zu werden. Heute, 35 Jahre später, sind Sie selbstständige Beraterin an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik, Justiz und Kultur und werden in der «New York Times» «aufsteigender Stern der Klimabewegung» genannt. Was hat die fünfjährige Ayana zu ihrer Entscheidung bewogen?
Ich denke, jedes Kind, das die Chance hat, im Meer zu schwimmen, ein Aquarium zu besuchen oder auf einem Glasbodenboot zu fahren, erkennt, dass unter Wasser diese andere, magische Welt existiert. Für mich war in jenem Sommer die Fahrt auf dem Glasbodenboot eine grosse Sache, als meine Eltern mich von New York nach Florida in den Familienurlaub mitnahmen.

Sie haben das Beratungsunternehmen Ocean Collectiv und den Thinktank Urban Ocean Lab gegründet. Wie sieht Ihr Arbeitsalltag nun aus?
Ich bin ein introvertierter Mensch. In gewisser Weise bevorzuge ich den Zustand, jetzt zu Hause isoliert zu sein, auch wenn dies ein schreckliches Szenario ist. Ich geniesse es, nicht an all den gesellschaftlichen Ereignissen teilnehmen zu müssen, zu denen man sonst gezwungen wird, und stattdessen mehr Zeit, mehr Abgeschiedenheit zu haben. Mit Arbeit unter Zeitdruck geht ein Rausch einher. Die Zeitachse der Klimakrise ist real, und es ist anstrengend, ständig gegen diese Uhr anzurennen. Man muss die Ruhe und die Pausen nutzen, wenn sie sich einem bieten. Deshalb versuche ich, genau das zu tun in der tragischen Situation, in der wir uns nun befinden.

Wie geht es Ihnen und Ihrer Mutter in der Isolation?
Es ist ein Geschenk, jeden Tag lange Spaziergänge zu machen und die Landschaft wirklich erleben zu können. Ich glaube, dass viele Menschen gerade jetzt wieder ihre Verbindung zur Natur entdecken. Mir fällt auf, dass viele den Frühlingsbeginn viel aufmerksamer wahrnehmen. Sie wollen in den Parks sitzen und wandern gehen, um das Leben und die biologische Vielfalt um sich herum zu sehen, und ich hoffe wirklich, dass wir daran festhalten werden, wenn diese Phase vorbei ist: an dem Gedanken, was es bedeutet, die Natur zu schützen und zu stärken, damit sie uns weiterhin schützen und stärken kann.

In der «New York Times» warnte die Biowissenschaftlerin Meehan Crist kürzlich, dass «das Coronavirus eine Katastrophe für das Klima sein wird». Sie argumentierte, dass Projekte zu erneuerbaren Energien ins Stocken geraten könnten, weil globale Lieferketten unterbrochen werden. Dass Klimakonferenzen wegen Social Distancing abgesagt und Forschungsgelder gekürzt werden könnten, weil Regierungen nun die Wirtschaft priorisieren.
Letzteres ist meines Erachtens sehr wichtig, denn wie Regierungen auf diese Situation reagieren, ist eine Entscheidung. In den letzten Wochen habe ich am «Green Stimulus» mitgearbeitet, einem offenen Brief an die Kongressabgeordneten. Es gibt Regierungen, die jetzt Billionen von Dollar in die Wirtschaft stecken und darüber nachdenken, wie den Menschen und Unternehmen geholfen, wie der Arbeitsmarkt angekurbelt und verhindert werden kann, dass aus einer Rezession eine Depression wird. Aber wie genau verteilen wir die Mittel? Wir können diese Gelder für die Entwicklung erneuerbarer Energieressourcen einsetzen, wir können sie für grüne Arbeitsplätze verwenden und nicht für irgendwelche. Wir können Menschen mit der Wiederherstellung von Feuchtgebieten und Mangroven beauftragen, all diese Ökosysteme an den Küsten, die tatsächlich viel mehr Kohlenstoff in den Böden absorbieren als ein Wald an Land. Das sind alles Entscheidungen, die jetzt zu treffen sind, und wir müssen dafür kämpfen, dass wir den richtigen Weg einschlagen. Die massiven Investitionen, die nun in die Wirtschaft fliessen, sollten wir in den Aufbau einer Zukunft stecken, wie wir sie uns wünschen: eine nachhaltige Zukunft.

Sie haben im Präsidentschaftswahlkampf Elizabeth Warren zu Meeres- und Klimapolitik beraten und waren Beraterin des «Blue New Deal». Warren ist ausgeschieden. Wie sehen Sie die Zukunft der Klimapolitik in den USA?
Es finden gegenwärtig viele Gespräche mit dem Wahlkampfteam von Joe Biden statt, darüber, dass seine Klimapolitik viel ehrgeiziger sein muss und wie sie sich weiterentwickeln kann. Ich bin nicht bei diesen Telefonaten dabei, kenne daher keine Details, aber ich weiss, dass jene, die an der Klimaschutzpolitik arbeiten, darauf drängen, dass dieses Thema priorisiert wird. Dies ist die erste Präsidentschaftswahl, bei der der Klimawandel als Anliegen der Wählerinnen und Wähler zu einem wichtigen Entscheidungsfaktor wird. Wenn Biden sich die Stimmen der Klimawählerinnen und -wähler verdienen will, muss er mehr tun.

In Ihrer automatischen E-Mail-Abwesenheitsnotiz erwähnen Sie, dass Sie an einem Buch arbeiten. Können Sie darüber sprechen?
Ich arbeite an einem Buch über Klimalösungen, weil wir eigentlich schon die meisten Lösungen haben, die wir brauchen – von der regenerativen Landwirtschaft über erneuerbare Energien, die Wiederbepflanzung von Ökosystemen bis hin zur Elektrifizierung des Verkehrs. Es wird ein Buch sein, das sich mit den Lösungen an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik, Gerechtigkeit und Kultur befassen wird. Echte Lösungen, keine technisch-utopischen Zukunftsvisionen, sondern etwas, das anerkennt, dass es Menschen sind, die daran beteiligt sind.

Während Ihrer Doktorarbeit wurde Ihnen klar: Beim Schutz der Meere sollte man sich nicht auf die Fische konzentrieren, sondern auf Menschen. Können Sie erklären, wie diese Erkenntnis Ihre Forschung seither prägt?
Ich machte all diese Nachforschungen; ich zählte Fische und modifizierte Fanggeräte, um sie nachhaltiger zu machen, und mir wurde klar, dass die Fische alles richtig machen: Sie schwimmen herum, machen Babys, finden Nahrung und versuchen, nicht selber als Nahrung zu enden. Aber die Menschen kommen ihnen in die Quere, sie machen Probleme und zerstören die Ökosysteme. Mir wurde klar, dass ich die Menschen und ihre Beweggründe besser verstehen muss. Es ist nämlich eine Zwickmühle: Es sind zwar Menschen, die diese Probleme verursachen, gleichzeitig sind es aber auch Menschen, die existenziell vom Meer abhängig sind bezüglich Nahrung, Kultur, Lebensunterhalt. Als Tochter eines Jamaikaners fühle ich mich besonders verpflichtet zu verstehen, wie diese Verbindung zwischen Küstengemeinschaften und Meer erhalten werden kann und wie es aussehen würde, den Ozean zu nutzen, ohne ihn zu verbrauchen.

«Den Ozean nutzen, ohne ihn zu verbrauchen» — dem müssten doch alle zustimmen.
Oft, besonders wenn man als Aussenstehende in eine Gemeinschaft oder in ein anderes Land kommt und anfängt, über Nachhaltigkeit und Naturschutz zu sprechen, ist die Reaktion: «Sie wollen uns doch nur davon abhalten, dieses und jenes zu tun.» Wenn man das Problem aber aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet, kann die Botschaft lauten: «Wir wollen Ihre Beziehung zum Meer erhalten, aber sie muss sich weiterentwickeln, weil die Welt sich verändert hat.» Es gibt heute viel mehr Menschen und viel grösseren Druck auf die Ozeane, sodass wir nicht einfach so weitermachen können wie bisher und dabei erwarten, dass es klappt.

Wird dieser Fokus auf die Menschen, um den Ozean zu schützen, an den Universitäten gelehrt?
Diese sozioökonomische Komponente ist etwas, das man nicht aus Büchern lernt. Man muss vor Ort sein, mit den Fischern reden, mit den Frauen, die den Fisch verkaufen, und den Familien, die davon abhängig sind. Man muss begreifen, wie die Kultur mit dem Meer verflochten ist, um Respekt davor zu haben, was es bedeutet, die Art zu verändern, wie Fischereien verwaltet und Schutzmassnahmen ergriffen werden. Oft denken Leute, sie hätten die Antwort gefunden, aber sie funktioniert nicht, wenn sie nicht im Kontext der lokalen Bevölkerung, ihrer Kultur und Wirtschaft verankert ist. Es geht mir darum, zuzuschauen und zuzuhören, bevor ich denke, dass ich etwas beizutragen habe.

Sie haben die Fischfalle «A Better Fish Trap» konzipiert, die den Beifang um bis zu 80 Prozent reduziert, indem sie Jungfische, dünne Fische, Zierfische und Pflanzenfresser durch vertikale Spalten entkommen lässt.
Ich habe zwar mit einheimischen Fischern auf der karibischen Insel Curaçao zusammengearbeitet, aber ich denke, was diese spezielle Erfindung nützlich macht, ist, dass ich die wirtschaftlichen Aspekte berücksichtigt habe: die Tatsache, dass man eine bestehende Falle für einen Dollar nachrüsten kann, indem man einfach ein Stück Eisen verwendet, und dass ich ausgerechnet habe, dass die Verwendung dieses veränderten Fanggeräts keine Auswirkungen auf das Einkommen der Fischer hat. Das war es, was die Politiker für die Idee empfänglich machte; sie wussten, dass ihre Wähler ihr Einkommen nicht verlieren würden und sie gleichzeitig viel zum Naturschutz beitragen können. Diese Bauweise einer Fischfalle ist heute auf einigen karibischen Inseln und in Ostafrika gesetzlich vorgeschrieben.

Während Ihrer Zeit als Exekutivdirektorin des Waitt Institute führte Ihre Blue-Halo-Initiative zur ersten erfolgreichen Meereszonierung in der Karibik: Dank Ihren Bemühungen wurde 2014 ein Drittel der Küstengewässer von Barbuda unter Schutz gestellt.
Das stimmt, aber kurz darauf, im Herbst 2017, wurde die Insel vom Hurrikan Irma getroffen und stark in Mitleidenschaft gezogen. Für mich ein herzzerreissendes Beispiel dafür, dass eine kleine Insel alles richtig machen kann: langfristig denken und kurzfristig Opfer bringen; sich intensiv bemühen, all diese schwierigen Entscheidungen zu treffen, um Nachhaltigkeit zu erreichen und lokale Ökosysteme zu schützen und wiederherzustellen. Doch wegen der Veränderung des globalen Klimas, zu der kleine Inseln wie Barbuda fast nichts beigetragen haben, tobte ein derart starker Hurrikan stundenlang über der Insel. Sie befand sich im Auge des Sturms. Das zeigt mir, wie gross die Herausforderung ist, vor der wir stehen, und wie absurd es ist, von kleinen Gemeinschaften zu erwarten, all diese Naturschutzprobleme selbst zu lösen.

In einem Artikel in «The Intercept» bezeichneten Sie das Verhalten von Schauspieler und Hotelbesitzer Robert De Niro nach dem Hurrikan Irma auf der Insel Barbuda als «Landraub» und als «eine wilde Episode des Katastrophenkapitalismus».
Hurrikan Irma hatte grosse Auswirkungen auf die Ökosysteme der Küstengebiete, war aber auch ein schreckliches Beispiel für Katastrophenkapitalismus. Personen, die bis anhin keine Erlaubnis zum Bau von Resorts auf Barbuda hatten, nutzten den Sturm, um sich über den Willen der Einheimischen hinwegzusetzen. Ausgerechnet Robert De Niro schaffte es, ein Sondergesetz durchzuboxen, das ihm die Möglichkeit gab, einen grossen Teil der Insel zu planieren, ein privates Rollfeld und einen Yachthafen für sein «Paradise Found Nobu Resort» anzulegen. Dieses Spiel sehen wir immer wieder. Wunderschöne Orte, für deren Schutz lokale Gemeinschaften hart gearbeitet haben, stellen für Aussenstehende einen Wert dar, und sie wollen damit Geld verdienen, den Reichtum und die Macht dann jedoch nicht teilen. Ich werde niemals wieder einen Film mit De Niro schauen.

Sie betonen stets, dass Meereszonierungen eine der wichtigsten Massnahmen des Klimaschutzes sind. Können Sie erklären, warum?
Wir betrachten den Ozean und das Land sehr unterschiedlich. Wir sehen den Ozean, diese blaue Oberfläche, als eine leere Tafel. Wenn wir darüber nachdenken, wie wir an Land verschiedene Gebiete nutzen können, ist es normal, in Wohn-, Gewerbe-, Industrie- und Parklandzonen zu denken. Stadtplanung ist ein gut etabliertes Feld. Bei der Meeresplanung ist das anders, was ein grosses Problem darstellt: Wir haben eine Art Wilden Westen, wo jeder erwartet, dass der ganze Ozean jederzeit für ihn verfügbar ist, und das ist schlecht für die Nachhaltigkeit. Ich sehe ocean zoning als eine Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass es für alles einen Platz gibt, und um Konflikte zwischen verschiedenen Industrien wie etwa Offshore-Windparks, Aquakultur, Fischerei oder Schutzgebieten zu verringern. Ich finde es absurd, dass wir keinen Plan haben, wie wir mit diesem «Grossen Blau» umgehen wollen. Ich würde gern einen räumlichen Ansatz für die Nutzung des Ozeans sehen, bei dem es nicht nur darum geht, dass das eine geschützt wird und das andere nicht, sondern wo alles sich an robusten Rahmenbedingungen orientiert.

In Ihrem TED-Talk im Juli 2016 sagten Sie: «Es ist Zeit für Triage, wozu auch das Aufgeben von Orten gehört.» Können Sie über diesen äusserst pragmatischen Ansatz sprechen?
Ich habe vor etwa zwölf Jahren an der Graduiertenschule angefangen, darüber nachzudenken und zu schreiben, seither habe ich diesen Gedanken weiterentwickelt. Der Kontext für diese Aussage waren die Rezession in den USA im Jahr 2008 und das Wissen, dass wir eine sehr lange Liste bedrohter und gefährdeter Arten hatten, eine sehr lange Liste von Schutzgebieten, die nicht über die notwendigen Mittel verfügten, und eine unterfinanzierte Parkverwaltung und ozeanografische Verwaltung. Man wusste, dass Bundes- und Landesbehörden mit eingeschränkten Ressourcen Entscheidungen darüber trafen, was geschützt werden und in was investiert werden sollte, aber diese Entscheidungen wurden nicht auf transparente Weise getroffen. Triage fand statt, jedoch nicht so, dass es Bürgern möglich war zu verstehen, nach welchen Gesichtspunkten.

Sie verlangten im Grunde genommen mehr Transparenz von der Regierung?
Ich wollte, dass wir anerkennen, dass wir Entscheidungen darüber treffen, was wir retten. Triage ist nötig, wenn man nicht genügend Ressourcen hat. Der Begriff stammt aus der Medizin und bedeutet, dass man Wunden oder Krankheiten einen Dringlichkeitsgrad zuweist, um die Reihenfolge der Behandlungen zu bestimmen, und das ist manchmal der Kontext, in dem wir uns befinden, wenn es um die Umwelt geht. Ich finde es wichtig, das anzuerkennen. Ebenso müssen wir anerkennen, dass wir mehr Ressourcen haben könnten und uns keineswegs in einer Triage-Situation befinden müssten. Es ist nicht so, dass ich eine Befürworterin der Triage bin. Ich befürworte es, die Ressourcen zu haben, die notwendig sind, um die Arbeit zu tun, die getan werden muss. Doch in Ermangelung dessen sollten wir sehr sorgfältig über die Entscheidungen nachdenken, die wir hinsichtlich der Ressourcen treffen, die uns zur Verfügung stehen.

In Ihrem zweiten TED-Auftritt haben Sie erzählt, warum Sie sich ausgerechnet in den Papageienfisch verliebt haben. Können Sie uns die Gründe nennen?
Erstens hat der Papageienfisch ein Maul wie ein Papageienschnabel, das stark genug ist, um Korallen zu zerbeissen, obwohl er es eher auf Algen abgesehen hat. Er ist sozusagen der Rasenmäher des Riffs. Zweitens scheidet er nach dem Essen feinen, weissen Sand aus. Ein einziger Papageienfisch kann jährlich über 380 Kilo pulverisierte Koralle produzieren! Wenn Sie also das nächste Mal an einem weissen Sandstrand liegen, danken Sie doch einem Papageienfisch. Drittens hat er Stil: Er ist gesprenkelt und gestreift, blaugrün, magenta, gelb, orange, gepunktet. Der Papageienfisch wechselt zudem im Laufe seines Lebens mehrfach die Garderobe, vom jugendlichen Outfit über eine temporäre Aufmachung bis hin zum endgültigen Look. Viertens bringt dieser letzte Garderobenwechsel eine Geschlechtsumwandlung von weiblich zu männlich mit sich, die als sequenzieller Hermaphroditismus bezeichnet wird. Und fünftens scheiden Papageienfische manchmal, wenn sie es sich nachts in einer Ecke des Riffs gemütlich machen, aus einer Drüse am Kopf eine Schleimblase aus, die ihren gesamten Körper umhüllt. Auf diese Weise tarnen sie ihren Geruch vor Räubern und schützen sich vor Parasiten, damit sie tief und fest schlafen können.

Das klingt magisch.
Ja, aber mit dieser Liebe kommt Herzschmerz. Da Zackenbarsche und Schnapper mittlerweile überfischt sind, werden Papageienfische zum Ziel der Fischer. Das Speerfischen hat die grossen Arten vernichtet, mitternachtsblaue und Regenbogen-Papageienfische sind ausserordentlich selten, und Netze und Fallen sammeln die kleineren Arten auf.

Essen Sie Fisch?
Ab und zu. Allerdings weder Thunfisch noch andere grosse Raubfische. Thunfisch steht in der Nahrungskette weit oben und enthält daher viele Giftstoffe, etwa Quecksilber, die sich in ihm ansammeln, weil er so viele kleine Fische frisst. Ich esse ab und zu Sardinen und Sardellen, die sind weiter unten in der Nahrungskette angesiedelt, allgemein gesünder für uns und kommen in einer Vielzahl vor. Mies- und Venusmuscheln und Austern esse ich auch, weil sie gezüchtet werden und Filterfresser sind, was bedeutet, dass sie ihre Nährstoffe direkt aus dem Wasser nehmen und das Wasser klarer machen. Ausserdem hat die Zucht einen superkleinen CO2-Fussabdruck, was auch bei Seegras der Fall ist. Wir sollten alle mehr gezüchtete Algen essen! Sie absorbieren Kohlendioxid und überschüssige Nahrungsstoffe, bieten Lebensräume für andere Spezies und sind sehr nahrhaft.

Selbst die kürzeste Biografie, die ich gefunden habe, erwähnt, dass Sie aus Brooklyn stammen. Es scheint Ihnen wichtig, das klarzustellen. Weshalb?
Es ist mein Zuhause. Wenn ich nicht bei meiner Mutter auf dem Bauernhof bin, lebe ich in Brooklyn, einen Block von dem Haus entfernt, in dem ich aufgewachsen bin. Die Leute können sich einfach nicht vorstellen, dass eine Meeresbiologin aus Brooklyn stammt. Sie scherzen oft: Was macht eine Meeresbiologin in Brooklyn? Dann sage ich: Die fünf Bezirke von New York City haben eine Küstenlinie von insgesamt 930 Kilometern Länge. New York ist eine Küstenstadt. Das vergisst man leicht, denn New York hat nicht die gleiche Beziehung zum Wasser wie andere Küstenorte. Und ein schwarzes Mädchen aus Brooklyn zu sein, das seinem Kindheitstraum gefolgt ist und Meeresbiologin wurde, ist wichtig für junge Menschen, die überlegen, was sie als Erwachsene tun wollen.

Sie sind ein Vorbild.
Das ist der Grund, weshalb ich mein Foto freigegeben habe für eine Kampagne zum Schutz der Meere. Mir wurde bewusst, dass all diese Kinder, die daran zweifeln, ob so etwas für sie möglich ist, mein Gesicht sehen und denken werden, dass auch sie Meeresbiologen werden können. Das ist die einfachste Art, ein Vorbild zu sein. So bekamen viele Kinder, die an amerikanischen Flughäfen an diesen Plakaten vorbeigingen, die Chance, von einer Zukunft zu träumen, die sie für unrealistisch gehalten hatten.

Aus welcher Ecke von Brooklyn kommen Sie?
Fort Greene. Schon immer das beste Quartier, auch wenn es sich dramatisch verändert hat. Es gibt diesen Wunsch, den Ort zu verlassen, an dem man aufgewachsen ist, und seinen eigenen Weg zu gehen. Nach der Highschool bin ich fortgegangen und erst vor ein paar Jahren zurückgekehrt. Ich weiss nicht, warum, aber mir liegt viel daran, nach Hause zu kommen und dabei zu helfen, den Ort, von dem ich stamme, zu «flicken». Das scheint auch anderen so zu gehen. Für welche Orte haben die Leute sich nun entschieden, um während der Pandemie Schutz zu suchen? Von den Menschen, die die Wahl hatten, gingen viele nach Hause, sie gingen an den Ort, an dem sie sich am meisten geerdet fühlen. Wie würde es aussehen, wenn unsere sozialen Strukturen und Ökonomien es uns allen erlauben würden, dort zu leben, wo wir uns wirklich zu Hause fühlen?

Eigentlich sind Sie Wissenschaftlerin. Was aber Ihre Arbeit auszumachen scheint, ist deren tiefe Verankerung in der Gemeinschaft. Woher haben Sie die Fähigkeit, das Vertrauen der unterschiedlichsten Menschen zu gewinnen?
Ich weiss es nicht (lacht). Ein Teil davon ist wohl das Wissen, dass niemand mir etwas schuldet, was tatsächlich damit zu tun hat, dass ich in Brooklyn aufgewachsen bin. Ich habe nie erwartet, dass die Leute ihre Türen für mich öffnen, mich willkommen heissen oder meine Fragen beantworten. Das langweilige offene Geheimnis ist, dass man immer wieder vor Ort sein muss. Man kann nicht erwarten, dass jemand seine Lebenserfahrung preisgibt, wenn man zum ersten Mal auftaucht. Man muss herausfinden, wie man helfen kann, nicht nur, wie man Informationen aus anderen Personen herausbekommt. Das erfordert Geduld, Entschlossenheit und Demut. Ich habe gelernt, für diese Arbeit mein Ego zu unterdrücken. Es geht nicht um mich. Die Wissenschaft kann uns sagen, wohin verschiedene Ansätze theoretisch führen, aber es ist eine völlig andere Sache, die Erkenntnisse in die Tat umzusetzen. Das ist der schwierige Teil: die Ideen zu verwirklichen und tatsächlich in der Welt gedeihen zu lassen.

Während der Arbeit an Blue Halo haben Sie achtzehn Monate auf Barbuda gelebt, was Ihnen wohl geholfen hat, die lokalen Bräuche und Rituale zu verstehen. Es gibt ein Foto, auf dem Sie mit Einheimischen Domino spielen, um mit Fischern ins Gespräch zu kommen, die nicht zu den Community-Meetings erschienen. Welche anderen Tricks nutzen Sie?
Einen Plan haben, aber immer bereit sein, ihn anzupassen. Man verliert sich leicht im Prozess. Man hat beispielsweise ein Community-Meeting hier, ein Treffen mit der Regierung dort oder muss wissenschaftliche Berichte sichten. Es ist aber nicht unbedingt so, dass zu diesen Terminen diejenigen erscheinen, die die meisten Informationen haben. Sobald ich herausfinde, wer die Leute sind, deren Stimmen in der Gemeinschaft zählen, gehe ich direkt auf sie zu. Ich klopfe an ihre Tür und sage: «Sie sind gegen das Projekt, bitte helfen Sie mir zu verstehen, warum. Können wir diskutieren, was besser funktionieren würde?» Hier geht es nicht um Stolz, sondern darum, so offen und ehrlich wie möglich zu sein. Ein grosser Teil der harten Arbeit zur Bewältigung der Klimakrise, der Biodiversitätskrise, der Ungleichheitskrise – die alle miteinander verflochten sind – besteht in Gesprächen. Ich frage mich, ob es meine Introvertiertheit verstärkt, dass ich weiss, dass ich meine soziale Energie für diese sehr schwierigen, professionellen Gespräche aufsparen muss.

Sie kämpfen an zig Fronten, sind auch Rednerin und Moderatorin, treten im Fernsehen auf und unterstützen als Aktivistin die junge Generation von Umweltschützerinnen. Wie behalten Sie bei all Ihren Tätigkeiten den Überblick?
Ja, ein grosser Teil meiner Arbeit hängt davon ab, dass ich den Überblick behalte und mit einem breiten Spektrum von Experten in Kontakt bleibe. Viele von uns, die an so grossen und vielfältigen Problemen arbeiten, befinden sich in dieser Situation; wir müssen versuchen, ein Gleichgewicht beizubehalten zwischen der Notwendigkeit, informiert zu bleiben, und der Notwendigkeit, tief und gründlich nachzudenken. Was meine Arbeitsweise oder meine Produktivität wirklich verändert hat, war, dass ich mich entschied, sowohl grosszügiger als auch strenger mit mir selbst zu sein in einer ganz bestimmten Hinsicht: Wenn ich inspiriert bin, lasse ich alles stehen, um zu schreiben. Wenn mir also etwas einfällt, finde ich einen Weg, mir zehn Minuten Zeit zu nehmen, um es aufzuschreiben, ansonsten verschwindet die Idee. Selbst wenn ich mitten in der Nacht aufwache und eigentlich nur weiterschlafen möchte, zwinge ich mich, diesen Gedanken schriftlich festzuhalten. Diese kleine Veränderung hat einen grossen Unterschied in meiner Fähigkeit bewirkt, meine Gedanken weiterzuentwickeln. Schreiben hilft mir, die Gedanken zu organisieren und mir über die Dinge sehr klar zu werden.

Sie haben mal gesagt: «Nicht die Hoffnung motiviert mich, sondern der Wunsch, nützlich zu sein.» Wie kann jeder einzelne Mensch in diesem Kampf nützlich sein, der in der Tat fundamentale, systemische Veränderungen erfordert?
Das hängt davon ab, worin Sie gut sind. Oft wird vergessen: Was ich tun sollte, was Sie tun sollten, was meine Mutter tun sollte – das sind alles sehr unterschiedliche Dinge, denn momentan gilt es, unsere Fähigkeiten, unsere Netzwerke und unsere Finanzen dafür zu nutzen, an Lösungen zu arbeiten. Es kommt folglich darauf an, über welche Fähigkeiten, Netzwerke und Finanzen Sie verfügen. Ich ermutige die Menschen, über die Entwicklung ihrer eigenen «Power-Landkarte» nachzudenken. Was können Sie in diese Arbeit einbringen? Was kann eine Anwältin tun, was eine Künstlerin? Vielleicht organisieren Sie tolle Partys, vielleicht erzählen Sie spannende Geschichten, vielleicht decken Sie die Wahrheit auf – was ist Ihre Superpower? Können Sie reiche Leute dazu bringen, ihre Brieftaschen zu öffnen? Es ist eine schwierige Antwort, denn es sind schwierige Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, und eine einheitliche Lösung gibt es nicht. Es ist wichtig anzuerkennen, dass die Rolle jedes Einzelnen eine massgeschneiderte Rolle sein wird und dass es Dinge gibt, die wir gemeinsam tun müssen. Treten Sie einer Organisation bei, seien Sie Teil einer grösseren Sache, bei der Ihre Fähigkeiten allen anderen frei zur Verfügung stehen – das macht Freude, und es hilft, die Dinge zu beschleunigen.

Im Februar 2018 waren Sie zu Gast bei «Exploring – By the Seat of Your Pants», dem Gratis-Livestream, der Klassenzimmer mit Umweltschützerinnen verlinkt. Sie zeigten den Primarschülern ein Foto und sagten ihnen, dass dies der schönste Ausblick ist, den Sie jemals in Ihrem Leben hatten. Können Sie ihn beschreiben?
Barbuda ist eine sehr flache Insel und deshalb vom ansteigenden Meeresspiegel stark bedroht. Es gibt dort eine Klippe, zu der man durch einige Höhlen gelangt, man kriecht da regelrecht hindurch. Oben auf dem Plateau angekommen, hat man einen grandiosen Ausblick. Es ist dieses karibische Blau, dieses unglaublich funkelnde Türkis. Man ist ganz allein, nur man selbst und der Wind und das Rauschen der Wellen, und es hilft, vollkommen auf null zu schalten und auf eine positive Art und Weise zu erkennen, wie klein man als Individuum ist. Dass man Teil von etwas ist, das so viel grösser ist und so wunderschön, dass man einfach einen Beitrag leisten will.

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