10.08.2015, Die Genusswoche

Eine Bewegung von unten

Hinter Slow Food Youth stehen junge Menschen, denen es nicht egal ist, woher das Essen auf ihrem Teller stammt. Sie setzen sich für lokale, saisonale und fair produzierte Lebensmittel ein. Sie organisieren Workshops, Tafelrunden und Produzentenbesuche. Es geht ihnen nicht darum, mit erhobenem Zeigefinger die Welt zu erklären, vielmehr suchen sie den Dialog und nähren so den Diskurs. Food Waste, Geschmacksbildung und Herstellungsverfahren sind Themen, die bei dieser jungen, urbanen Bewegung auf dem Tisch liegen. Drei Mitglieder erzählen, weshalb sie sich engagieren.

Von Stephanie Rebonati
Bilder: Filipa Peixeiro

Der Enthusiast
Es sei ein kulinarisches Paradies gewesen. Das beste Mahl der Woche. Damals im Schwimmlager. Timothée Olivier gerät ins Schwärmen. Er erzählt vom Mittagsbuffet am letzten Tag des Lagers. Es gab Resten. Essensresten von fünf Tagen, Dessert inklusive. Der kleine Timothée empfand das nicht wie andere Kinder als Strafe, vielmehr machten ihn die vielen Gerichte, die sich auf seinem Teller türmten noch hungriger. Er war es sich gewohnt, denn seine Eltern tischten daheim alle drei Tage Übriggebliebenes auf. Das lehrte den Romand früh: der Diskurs um die globale Lebensmittelverschwendung kann im eigenen Alltag integriert werden.

Es ist eine Haltung, ein Politikum, dem sich der 23-jährige Lausanner heute verschrieben hat. Er sagt: «Ich will das Thema Food Waste popularisieren.» Timothée Olivier sitzt in der Küche. Er sitzt hier, weil es sein Lieblingsort ist. Hat er ein paar Tage frei, fährt er aufs Land, besucht Kleinproduzenten und Bauern, lässt sich erklären, weshalb die Tomaten Flecken haben, er fragt, wie sich die vielen Kürbissorten voneinander unterscheiden und wie der Rindsbraten saftig bleibt.

Der Geschichts- und Germanistikstudent sucht den Kontakt zur Quelle, weil «Mutter Erde mir wichtig ist». Er hat einen Plan. Er will die Jugendlichen in Lausanne mobilisieren. Einen Stammtisch gründen, gemeinsam essen und diskutieren – und «Disco Soupes» planen. Partys im öffentlichen Raum, an denen aus Gemüseresten Suppe gekocht wird. Schon zwei solche Discos hat er auf die Beine gestellt. Sind sie ein Rezept gegen die Lebensmittelverschwendung?

Timothée Olivier, dieser junge Mann mit den grossen Plänen, er zuckt die Schultern, schmunzelt. Und er sagt nein. Aber er habe ein Rezept gegen die Verschwendung von Brot. Er sagt: «Um altes Brot zu verwerten, schneide ich es in Würfel, reibe diese mit Olivenöl und Kräutern ein und lasse sie 20 Minuten im Backofen knusprig werden.» Es sei zwar nur ein Rezept für Brot-Croutons, aber genau darum ginge es: den Diskurs im eigenen Alltag integrieren.

Timothées Tipps: Gemüse bei Marché Cuendet, Bremblens (marche-cuendet.ch), Linsen und Cerealien bei La Ferme Iseli, La Sarraz (ferme-iseli.ch), Tagesmenüs bei L’Elephant Blanc, Lausanne (lelephantblanc.ch).

Die Vermittlerin
Sie sagt, sie sei weder Idealistin noch Romantikerin. Eine militante Naturschützerin sei sie auch nicht. Was ist sie denn? Sie lacht. Sie läuft staksig über eine Wiese, weil sie die vielen, vielen Krokusse nicht zerdrücken will. Sie sagt, sie sei vor allem eins: «neugierig». Flurina Gradin ist 32, hat Design studiert und ist an der Zürcher Hochschule der Künste für Workshops zuständig, in denen Jugendliche Designpraktiken kennenlernen. Als Co-Autorin veröffentlichte sie einen Schweizer Dorfreiseführer. Als Mitdenkerin konzipierte sie einen Saisonkalender zu 100 heimischen Gemüse- und Obstsorten. Derzeit absolviert sie eine Ausbildung in Feldornithologie.

Es sind Zusammenhänge wie diese, die Flurina Gradin faszinieren: kauft man Lebensmittel, die mit Obst von Hochstammbäumen hergestellt werden, fördert man den Lebensraum des Steinkauzes, der vom Aussterben bedroht ist. Sich also mit Konfitüre und Sirup versorgen und gleichzeitig einer kleinen Eulenart helfen – das möchte Flurina Gradin jungen Menschen vermitteln und tüftelt deshalb mit Gleichgesinnten an neuen Vermittlungsformaten.

Mit Kindergärtnern riecht sie sich durch den Gewürzgarten. Mit Primarschülern erkundet sie den Gemüsemarkt. Mit Gymnasiasten produziert sie hausgemachte Butter. Und immer stellt sie dabei Fragen. Wie sehen unsere Essgewohnheiten in zehn Jahren aus? Welchen Stellenwert soll Essen in unserem Alltag einnehmen? Vor kurzem war sie mit Jugendlichen unterwegs, die zum ersten Mal rohen Fenchel kosteten. Das überraschte und erinnerte sie: «Ich war 15 und mit Freunden im Piemont als ich zum ersten Mal Rucola ass».

Die Geschmacksbildung ausserhalb des Elternhauses sei genauso wichtig wie jene, die man dank diesem erlebe. Sie erzählt vom Heidelbeerkuchen ihrer schwedischen Grossmutter und vom Kalbsvoressen ihrer Schweizer Oma. Sie läuft noch immer über die Wiese und um die Krokusse herum. Unter einem Baum macht sie Halt und schaut in die grosse, runde Krone hinauf. Sie fragt: «Hört ihr die Vögel zwitschern?» Sie strahlt.

Flurinas Tipps: Schwartenmagen und Obstbrände bei Berg und Tal, Zürich (berg-tal.ch), feines Schlemmen bei Wii am Rii, Schaffhausen (wiiamrii.ch), Pariserfladen bei Bäckerei W. Motzer, Gonten.

Die Unternehmerin
Valentina Bosia will Schokolade produzieren. Sobald sie genug Kapital beisammen hat, will sie ihre eigene Firma gründen, bei Freunden in Ecuador Kakaobohnen beziehen und hier in der Schweiz, wo die Schokolade Tradition ist, Aufklärung betreiben. Sie will den Herstellungsprozess sichtbar machen. Sie sagt: «Wir Schweizer essen so viel Schokolade und es klingt manchmal fast so, als ob wir sie erfunden haben, aber die Zutaten stammen von weit weg, wo jemand sie pflanzt und erntet. Diese Geschichte will ich erzählen».Denn sie kennt sie gut, die Geschichte der gelb-orangen Frucht, die im Unterholz der Regenwälder Lateinamerikas wächst.

Die 25-jährige Tessinerin hat in Pollenzo gastronomische Wissenschaften studiert. Es ist eine kleine Universität, die Slow Food 2003 in Zusammenarbeit mit den Regionen Piemont und Emilia-Romagna gegründet hat. Valentina Bosia hat in Mexiko eine Vanille-Produktion besucht, in Norditalien alte Frauen, die Tortellini herstellen, in New York junge Leute, die auf Dächern Tomaten anpflanzen. In Ecuador ist sie stecken geblieben. Nördlich von Quito, dort, wo in den Bergen ein kleines Unternehmen mit wenig Mittel und Maschinen Schokolade produziert. Viereinhalb Monate hat sie mitangepackt. Fermentieren, Rösten, Schälen, die Kakaobohnen lagen in ihren Händen.

Als Teenager wollte sie Konditorin werden, aber ihre Eltern, Bienenzüchter aus Stabio bei Mendrisio, wollten, dass die Tochter studiert. Valentina Bosia lacht. Sie sagt: «Jetzt habe ich die Ausbildung in der Tasche und kann endlich Süssigkeiten herstellen». Es motiviere sie zu wissen, dass sie Teil einer grossen Bewegung sei, «einer von unten».

Dass eine Rückbesinnung auf das Lebensmittelhandwerk stattfindet, dass Misstrauen gegenüber globalen Konzernen aufkommt, dass Informationen demokratisch ausgetauscht werden. Valentina Bosia will mitmischen. Mit Schokolade, «weil sie glücklich macht». Sie sagt: «Ich dachte stets, dass ich eine Ausbildung in Gastronomie absolviert habe, aber im Grunde habe ich Politik studiert».

Valentinas Tipps: Geräucherte Ricotta bei La Töira, Olivone (caseificiotoira.ch), Schoko- lade von Mashpi, Ecuador (choco- mashpi.com), Workshops am Festival Dei Sapori Etici, Losone (festivaldei- saporietici.ch).

Das Netzwerk – lokal und global
Slow Food Youth Schweiz wurde 2011 mit dem Ziel gegründet, jungen Konsumenten das Bewusstsein für lokale, saisonale und fair produzierte Lebensmittel zu vermitteln. Der Verein besteht aus jungen Produzenten, Köchen, Studenten, Aktivisten und Feinschmeckern, denen es nicht egal ist, woher ihr Essen stammt. Der Verein organisiert monatlich einen Stammtisch an wechselnden Orten, Betriebsbesuche in der ganzen Schweiz, Workshops in Kindergärten und Schulen sowie Tafelrunden im öffentlichen Raum. Slow Food Youth ist die Tochterbewegung des Vereins Slow Food, der 1986 vom italienischen Publizisten Carlo Petrini als Antwort auf Fast Food und auf die Industrialisierung des Essens gegründet wurde. Slow Food engagiert sich in über 150 Ländern.

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Dieser Text erschien auf Deutsch, Französisch sowie Italienisch

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