06.10.2015, Hochparterre

«Ich habe schon immer viele Baustellen betrieben: ganz natürlich»

Patrick Frey, Kunstbuchverleger, Schauspieler, Kunstkritiker

Aufgezeichnet von Stephanie Rebonati
Foto: Paola Caputo

Ich habe grösste Mühe zu definieren, was ich bin. Denn es geht darum, was ich mache. Ich war früh multimedial tätig. Ich habe geschrieben, Kunst gemacht, Kataloge betreut und später mit dem Bücherpublizieren und dem Showbusiness begonnen. Ich habe mal Ökonomie, mal Kunstgeschichte studiert und bin viel gereist. Ich habe schon immer viele Baustellen betrieben. Ganz natürlich, niemand hat mir das vorgeschrieben. Heute ist diese Lebens- und Arbeitsweise Pflicht. Du musst in verschiedenen Disziplinen tätig sein, du musst kreativ und cool sein. Und du musst das alles locker machen, ja nicht angestrengt wirken. Wäre ich heute jung, würde ich wohl ganz stier einer Tätigkeit nachgehen, um dem Mainstream aus dem Weg zu gehen.

Als ich jung war, haben wir hemmungslos ausprobiert. Wir waren Dilettanten. Dilettanten mit grösster, geistiger Intensität. Wir haben alles verachtet, was mit Professionalisierung und Ausbildung zu tun hatte. Bücher haben wir von Hand geklebt und sie so dem Setzer gebracht. Kabarettabende haben wir in Wohnungen von Bekannten veranstaltet. Wir haben uns Inspiration aus der Kunst, der Musik, der Alltagskultur, dem Schönen und Hässlichen, das man draussen sieht, geholt. Es herrschte ein starker Wille, alles fern von bewährten Methoden zu machen.

Damals gab es keine sozialen Medien, noch keine Vernetzung von Meinungen, Haltungen und Trends. Trends kamen viel langsamer auf uns zu und waren vielmehr eine Sache der Avantgardisten, der Eingeweihten. Die, die keine Ahnung hatten, waren sonst wo. Heute sind alle zu Hipstern geworden. Du hast eigentlich die Pflicht, ein Hipster zu sein, wenn du in dieser Szene arbeitest. Du kannst nicht einfach ein träger Streber sein oder ein durchgeknallter Kiffer, der ab und zu mal was Geniales liefert. Das ist schlimm und irrsinnig anstrengend. Die Unkonventionellen und Irren haben mich schon immer inspiriert. Unabhängige Leute wie etwa Antonin Artaud mit seiner absoluten Freiheit von der bürgerlichen Moral, seinem Konzept vom Theater der Grausamkeit, das immer die Haut ritzte. Auch de Sade. Oder Francis Picabia, der früh eine ironische Haltung dem Kunstbetrieb gegenüber entwickelte.

Ich vermisse meine Jugend. Was denn sonst? Wenn du jung bist, ist die Perspektive eine völlig andere. Es ist kein Ende in Sicht. Das beobachte ich heute als Vater von vier Söhnen. Ich vermisse natürlich nicht alles. Zwischen zwanzig und dreissig ging es mir stimmungsmässig eine Zeit lang sehr mies. Ich schlug mich mit Zweifeln und Depressionen rum. Das Leiden die Energie, die Qual der Motor, hat Ernst Jandl gesagt. Das war zeitweise mein Leitspruch. Als junger Mensch musst du dich fragen, was dich antreibt. Es kann dich alles antreiben, auch Angst. Die Angst, in ein Loch zu fallen etwa. Man muss diese Angst nicht unbedingt kurieren, sondern sie vielmehr zum eigenen Motor machen.

Was ich aus meiner Jugend noch immer mit mir trage, ist Enthusiasmus. Ich blicke nach draussen und bin noch immer fasziniert. Vor kurzem war ich im Bahnhof Avignon TGV. Das ist eine gigantische, halbgebogene Halle, die du von unten betrittst und wenn der Zug einrollt, zuoberst im Gebäude, öffnen sich grosse Schiebetüren aus Glas. Völlig futuristisch! Unfassbar! Man braucht ein Reservoir an Faszinationskraft und Begeisterung aus der Jugend, um durchhalten zu können. Wenn man das nicht hat, wird es richtig hart.

DOWNLOAD PDF

Webdesign und Webagentur Zürich