28.10.2013, Kulturkritik.ch

Die leidenschaftlich Unangepasste

Mit dem Tram entlang der Biografie von Laure Wyss.

Von Stephanie Rebonati
Fotos von SRF / Limmat Verlag

Vor dem Tram standen Frauen, bis kurz vor der Abfahrt ausschliesslich Frauen. Sie waren zwischen fünfundvierzig und siebzig, trugen das Haar kurz oder auf Kinnlänge und unterhielten sich in Gruppen. Sie sagten: «Ein Frauentram wird das!» oder «Hoi Trudi, deine grüne Hose habe ich sofort gesehen, die habe ich ja auch!» oder «Es gibt heute so viel in Zürich, man muss Prioritäten setzen». Die Frauen trugen fast alle Foulards, gepunktete oder karierte, seidenfeine oder grob gehäkelte, alle farbig, sie erinnerten an Schals, die man in Museumsshops kauft. Ähnlich der Schmuck: milchige Glaskugeln, klobige Quadrate aus Pappmaché.

Vor dem Tram standen Frauen, die wussten, wer Laure (gesprochen: Lor) Wyss war. Zum hundertsten Geburtstag dieser aussergewöhnlichen Frau fuhr ein Tram in der Stadt Zürich ihrer Biografie entlang. Bellevue, Paradeplatz, Stauffacher, Bahnhofquai, Schaffhauserplatz, Milchbuck, Irchel, Kunsthaus, Bellevue. Während der einstündigen Fahrt lasen Barbara Kopp, Zürcher Schriftstellerin, und Regula Imboden, Walliser Schauspielerin, aus Büchern, die Laure Wyss’ Leben erzählen. Barbara Kopp verfasste das aktuellste: «Laure Wyss. Leidenschaften einer Unangepassten», im Juni diesen Jahres im Limmat Verlag erschienen. Ein Buch mit Sätzen wie diesen: «Bueb, wir können nie heiraten» oder «Lor will frei sein, will sich nicht beugen» oder «Und immer dieses Blau. Ein Sog, ein Rausch, eine nie gestillte Sehnsucht. Wie wenn er einen Bergsee beschriebe, kam ihm ihr Wesen vor: ‹frisch› und ‹hell›, ihre Art ‹klar›, ihre Gestalt ‹unberührt›.

Laure Wyss wurde 1913 in Biel geboren, für den Vater Werner Wyss, er war Anwalt, Bieler Stadtrat und Berner Grossrat, war es selbstverständlich, seine beiden Töchter ins Gymnasium zu schicken. Nach der Matura begann Laure Wyss ein Sprachstudium in Paris, Zürich und Berlin. Während dem Zweiten Weltkrieg übersetzte sie in Schweden Dokumente und Schriften aus der Widerstandsbewegung der skandinavischen Kirchen gegen die deutsche Besatzungsmacht und 1945 wurde Zürich ihr Wohnsitz, wo sie als freie Journalistin arbeitete. Vier Jahre später war sie geschieden und alleinerziehende Mutter eines ausserehelich gezeugten Sohnes.

Den Frauen im Tram, das anlässlich des hundertsten Geburtstags der Laure Wyss eine Stunde durch Zürich fuhr, entsprangen leise «Ahs», als Biografin Barbara Kopp über die erste Ausgabe des «Tages-Anzeiger Magazins» (heute: «Das Magazin») vorlas. Laure Wyss war damals, Anfang der Siebziger, prägende Mitbegründerin dieser wöchentlichen Beilage, die Zeitung und Verlag «Modernität und internationalen Glanz» einbringen sollte. Auf dem Cover dieser ersten Ausgabe war eine Amerikanerin zu sehen: braune Augen, viel Mascara und ein Helm mit der Aufschrift «Make War Not Love». Die Leser waren entsetzt und schimpften: «Unsere Frauen sind viel charmanter».

Laure Wyss war charmant, gewiss. Das sieht man in Interviews, die sie dem Schweizer Fernsehen gab, oder im 1999 veröffentlichten Dokumentarfilm «Laure Wyss. Ein Schreibleben». Aber Laure Wyss war natürlich nicht in jener Art charmant, wie das die Männer meinten, die dem «Tages-Anzeiger Magazin» Leserbriefe schrieben. Sie war eine Frau mit Herz und Kopf, sie hatte eine Agenda. Sie kämpfte für die Selbstbestimmung und Gleichberechtigung der Frauen, gegen den Kitsch des Muttertags, gegen die Benachteiligung als Mutter eines ausserehelichen Kindes und sie förderte den Nachwuchs: Niklaus Meienberg, Hugo Loetscher, Peter Bichsel. Sie sagte immerzu: «Widerstand ist die Pflicht jedes einzelnen».

Laure Wyss war eine Medienpionierin und Wegbereiterin der heutigen Gesellschaft. Vor dem Tram auf dem Bellevueplatz in Zürich standen Frauen, viele davon, ja, aber es waren Frauen mit graumelierten, kurzen Haaren, Brillen und Foulards, die man in Museumsshops kaufen kann. Frauen, die 1971, als das Frauenstimmrecht eingeführt wurde, womöglich dafür auf die Strasse gegangen sind, Frauen, die 1972, als das erste «Tages-Anzeiger Magazin» herauskam, vor Freude kreischten, innerlich vielleicht nur, weil sie meinten, öffentlich nicht zu dürfen. Vor dem Tram fehlte eine Kohorte, wo war sie? Wo waren die Frauen, die das Haar lang und offen, ja roten Lippenstift und Vintage-Jeansjacken tragen? Wo waren die Frauen, die Michèle Roten lesen, Rennvelo fahren, unverheiratet mit ihrem Freund leben und ein Kind erwarten, als freischaffende Grafikerinnen und Fotografinnen arbeiten? Diese Frauen fehlten, bedauerlicherweise.

Vor dem Tram standen Frauen, bis kurz vor der Abfahrt ausschliesslich Frauen. Sie waren zwischen fünfundvierzig und siebzig, trugen das Haar kurz oder auf Kinnlänge und unterhielten sich in Gruppen. Sie sagten: «Ein Frauentram wird das!» oder «Hoi Trudi, deine grüne Hose habe ich sofort gesehen, die habe ich ja auch!» oder «Es gibt heute so viel in Zürich, man muss Prioritäten setzen». Die Frauen trugen fast alle Foulards, gepunktete oder karierte, seidenfeine oder grob gehäkelte, alle farbig, sie erinnerten an Schals, die man in Museumsshops kauft. Ähnlich der Schmuck: milchige Glaskugeln, klobige Quadrate aus Pappmaché.

Vor dem Tram standen Frauen, die wussten, wer Laure (gesprochen: Lor) Wyss war. Zum hundertsten Geburtstag dieser aussergewöhnlichen Frau fuhr ein Tram in der Stadt Zürich ihrer Biografie entlang. Bellevue, Paradeplatz, Stauffacher, Bahnhofquai, Schaffhauserplatz, Milchbuck, Irchel, Kunsthaus, Bellevue.

Während der einstündigen Fahrt lasen Barbara Kopp, Zürcher Schriftstellerin, und Regula Imboden, Walliser Schauspielerin, aus Büchern, die Laure Wyss’ Leben erzählen. Barbara Kopp verfasste das aktuellste: «Laure Wyss. Leidenschaften einer Unangepassten», im Juni diesen Jahres im Limmat Verlag erschienen. Ein Buch mit Sätzen wie diesen: «Bueb, wir können nie heiraten» oder «Lor will frei sein, will sich nicht beugen» oder «Und immer dieses Blau. Ein Sog, ein Rausch, eine nie gestillte Sehnsucht. Wie wenn er einen Bergsee beschriebe, kam ihm ihr Wesen vor: ‹frisch› und ‹hell›, ihre Art ‹klar›, ihre Gestalt ‹unberührt›.

Laure Wyss wurde 1913 in Biel geboren, für den Vater Werner Wyss, er war Anwalt, Bieler Stadtrat und Berner Grossrat, war es selbstverständlich, seine beiden Töchter ins Gymnasium zu schicken. Nach der Matura begann Laure Wyss ein Sprachstudium in Paris, Zürich und Berlin. Während dem Zweiten Weltkrieg übersetzte sie in Schweden Dokumente und Schriften aus der Widerstandsbewegung der skandinavischen Kirchen gegen die deutsche Besatzungsmacht und 1945 wurde Zürich ihr Wohnsitz, wo sie als freie Journalistin arbeitete. Vier Jahre später war sie geschieden und alleinerziehende Mutter eines ausserehelich gezeugten Sohnes.

Den Frauen im Tram, das anlässlich des hundertsten Geburtstags der Laure Wyss eine Stunde durch Zürich fuhr, entsprangen leise «Ahs», als Biografin Barbara Kopp über die erste Ausgabe des «Tages-Anzeiger Magazins» (heute: «Das Magazin») vorlas. Laure Wyss war damals, Anfang der Siebziger, prägende Mitbegründerin dieser wöchentlichen Beilage, die Zeitung und Verlag «Modernität und internationalen Glanz» einbringen sollte. Auf dem Cover dieser ersten Ausgabe war eine Amerikanerin zu sehen: braune Augen, viel Mascara und ein Helm mit der Aufschrift «Make War Not Love». Die Leser waren entsetzt und schimpften: «Unsere Frauen sind viel charmanter».

Laure Wyss war charmant, gewiss. Das sieht man in Interviews, die sie dem Schweizer Fernsehen gab, oder im 1999 veröffentlichten Dokumentarfilm «Laure Wyss. Ein Schreibleben». Aber Laure Wyss war natürlich nicht in jener Art charmant, wie das die Männer meinten, die dem «Tages-Anzeiger Magazin» Leserbriefe schrieben. Sie war eine Frau mit Herz und Kopf, sie hatte eine Agenda. Sie kämpfte für die Selbstbestimmung und Gleichberechtigung der Frauen, gegen den Kitsch des Muttertags, gegen die Benachteiligung als Mutter eines ausserehelichen Kindes und sie förderte den Nachwuchs: Niklaus Meienberg, Hugo Loetscher, Peter Bichsel. Sie sagte immerzu: «Widerstand ist die Pflicht jedes einzelnen».

Laure Wyss war eine Medienpionierin und Wegbereiterin der heutigen Gesellschaft. Vor dem Tram auf dem Bellevueplatz in Zürich standen Frauen, viele davon, ja, aber es waren Frauen mit graumelierten, kurzen Haaren, Brillen und Foulards, die man in Museumsshops kaufen kann. Frauen, die 1971, als das Frauenstimmrecht eingeführt wurde, womöglich dafür auf die Strasse gegangen sind, Frauen, die 1972, als das erste «Tages-Anzeiger Magazin» herauskam, vor Freude kreischten, innerlich vielleicht nur, weil sie meinten, öffentlich nicht zu dürfen.

Vor dem Tram fehlte eine Kohorte, wo war sie? Wo waren die Frauen, die das Haar lang und offen, ja roten Lippenstift und Vintage-Jeansjacken tragen? Wo waren die Frauen, die Michèle Roten lesen, Rennvelo fahren, unverheiratet mit ihrem Freund leben und ein Kind erwarten, als freischaffende Grafikerinnen und Fotografinnen arbeiten? Diese Frauen fehlten, bedauerlicherweise.

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