03.04.2017, Noma Magazin

Ernstfall für die Ästhetik

In diesem Dorf aus Sichtbeton üben Rettungskräfte für den Ernstfall.
Das neue Ausbildungszentrum in Andel ngen erfüllt seinen Zweck – und ist schön. Weshalb die Ästhetik an diesem Ort durchaus berechtigt ist.

Von Stephanie Rebonati
Bilder: Kuster Frey

Kulissendorf, Trümmerdorf, unwirkliches Dorf. Das Ausbildungszentrum Andelfingen wurde anlässlich seiner Neueröffnung im September 2014 in den Medien rege beschrieben, vor allem beschimpft: Die Schweiz baut teuer! Für eine Brandmauer braucht es keinen Architekten! Erich Wipf, der Chef dieser Anlage, nimmt es gelassen – mittlerweile. Er ist 58, vierfacher Vater, ein langjähriger Feuerwehr- und Zivilschutzmann. Nach der Begrüssung wird er sagen: «Auf dem Gelände sind wir per du». Er wird auch vorausschicken, dass er gerne Abkürzungen benützt: ADL, TLF und PTF (Autodrehleiter, Tanklöschfahrzeug und Personentransportfahrzeug).

Er trägt ein kurzärmeliges Hemd und eine Hightech-Uhr, die Schritte, Puls und Temperatur misst. Er lacht viel, macht Witze, ein sympathischer Typ. Er, der dem Amt für Militär und Zivilschutz unterstellt ist, macht keinen Hehl daraus, was er über die moderne Architektur seines Ausbildungszentrums denkt. Er sagt: «Ja, sie ist schön, aber was heisst das schon? Hauptsache das Zeug funktioniert, nicht wahr? Ob diese Fassade Noppen haben muss, naja, aber sie ist solid gebaut und robust.» Er wird zugeben, dass er kein Freund der Ästhetik ist, in diesem Fall zumindest nicht, dass er die Architekten während des fünfjährigen Bauprozesses manchmal zum Teufel jagen wollte, dass das Resultat aber nun wirklich hervorragend sei. Erich Wipf ist der einzige Protagonist in dieser Geschichte, der kein einziges Mal sagte, «das schreiben Sie dann aber bitte nicht in Ihren Bericht rein». Das Ausbildungszentrum Andelfingen befindet sich im Herzen des Zürcher Weinlands, südlich der Thur zwischen Schaffhausen und Winterthur.

1972 ursprünglich als Schulungsstätte für den Zivilschutz und die damaligen Luftschutztruppen der Armee erstellt, wurde es vor zwei Jahren für 21 Millionen Franken saniert. Es wurde ausgebaut und auf den neusten Stand der Technik gebracht. Die Gebäudeversicherung Kanton Zürich stemmte 60 Prozent der Kosten, der Kanton den Restbetrag. Das neue AZA ist das modernste Übungsgelände der Schweiz. Zum Beispiel ist es mit einer Rauchgasreinigungsanlage ausgestattet, die sich der Technologie eines Krematoriums bedient und im höchsten Masse umweltverträglich ist. Das neue AZA funktioniert. 2015 wurden hier 12 459 Einsatzkräfte aus den Kantonen Zürich, Schaffhausen, Thurgau, Aargau und Basel-Stadt geschult – an insgesamt 27 400 Teilnehmertagen.

Es geht hier um eine realitätsnahe Infrastruktur, in der Zivilschutz, Feuerwehr, Polizei und Militär Notsituationen simulieren. Hier leben keine Menschen. Das AZA ist Nutzobjekt in reinster Form. Hier wird im Namen des Bevölkerungsschutzes geübt, gelernt, geschult, immer und immer wieder, wie ein Brand schnell und korrekt gelöscht wird, wie eine Geiselnahme keine Toten fordert, wie Spürhunde Verletzte in einer rauchgefüllten Tiefgarage finden, wie sich Rettungskräfte an hohen Wänden hinabseilen, wie sie wissen, was sie tun müssen, wenn das eintrifft, was niemand herbeiwünscht, niemals.

Wipf, der Chef vor Ort, demonstriert eine solche Situation. Er befindet sich in einer Zweizimmerwohnung an der Römerstrasse 8. Vom kleinen Balkon aus blickt man auf die grossen Becken, wo das Löschwasser gesammelt und gereinigt wird. In der Ferne sind Rufe auszumachen. Die Jugendfeuerwehr rennt an diesem kühlen Vormittag durch die Strassenschluchten des Kulissendorfs – in voller Montur. Mit Helmen, Schläuchen, in schweren Jacken und dicken Hosen, auch das Feuer ist echt. Genau wie jenes im Schlafzimmer der Zweizimmerwohnung, wo Wipf im kurzärmeligen Hemd, über das er eine sportliche Jacke aus Funktionstextilien gestreift hat, zwei Knöpfe drückt. Innert Sekunden brennt das Ehebett lichterloh. Der Raum ist voller Rauch. Die gelbroten Flammen tanzen immer höher hinauf, der Rauch breitet sich auch im Wohnzimmer aus. Er sagt: «Bald ist auch das Treppenhaus voll und obwohl du vor wenigen Minuten hier raufgekommen bist, wirst du in einer solchen Situation Mühe haben, den Ausweg zu finden.»

Es wird unerträglich heiss, Panik kommt auf, auch wenn man weiss, es geht hier um eine Übung, um eine kleine Demonstration für die Reportage, um «die heisseste Nacht, die du jemals erleben wirst», lacht Wipf. Er meint es gut, will die angespannte Stimmung, die irgendwie aufkam, auflockern. Aber man will einfach nur raus. Raus, auch wenn das Ehebett lediglich eine Übungskonstruktion aus Eisen ist, die wie ein Gasgrill funktioniert. Raus, um den feinen Schweiss lm an der frischen Luft trocknen zu lassen, der sich auf Nacken und Stirn gebildet hat. Raus unter die Sonne, raus in die heile Welt, raus in diese fiktive Realität, die von vier Architekturbüros entworfen und aus Sichtbeton gegossen wurde.

Es gibt Gebäude, Gassen, Strassenzüge, einen Dorfplatz, eine Tankstelle inklusive Tanksäule und Tankstellenshop. Alles wirkt real, die Proportionen, die Höhen, die Tiefen, die Breiten. Asymmetrie sucht man vergebens. Der urbane Mensch kennt dieses Strassenbild, diese Anordnung von Häusern und Raum. Er fühlt sich wohl, ihm ist die hier herrschende starke, formale Ästhetik vertraut. Wohl, weil diese in der Schweiz durchaus eine Tradition hat.

Und ja, dieses Gebäudeensemble aus Beton wirkt. Es hat etwas. Es ist schlicht, kühl, zeitgenössisch. Die Häuser sind nicht identisch, aber das Material vereint sie. Doch wieso ist etwas schön, das reines Nutzobjekt ist? Das abgefackelt, mit Gummischrot, Tränengas und Wasser beschossen wird? Nehmen die Rettungskräfte, die hier den Ernstfall üben, den schön gegossenen Sichtbeton mit seinen markanten Noppen und feinen Rillen wahr? «Ja», sagt Cyrill Denzler von moos giuliani herrmann architekten, dem Architekturbüro, das die Gesamtleitung des Projekts innehatte. «Genau weil die Gebäude individuell gestaltet sind und weil durch das vereinende Material Zugehörigkeit vermittelt wird, wurde hier ein möglichst reales Abbild der Realität geschaffen.» Das war schliesslich ihr Auftrag: in einem offensichtlich unrealen Raum einen realitätsnahen Bezug herzustellen, in dem es sich so echt wie möglich üben lässt.

Das betont auch Christoph Keller vom Hochbauamt des Kantons Zürich: «Es galt städtebaulich zu denken und das heutzutage Typische zu realisieren, mitsamt der für urbane Zentren üblichen Dichte und einer Dorfstruktur, die den Einsatzkräften vertraut vorkommt.» Der kantonale Gesamtprojektleiter gibt gleichzeitig zu: «Man hätte auch ohne Strukturen arbeiten und somit auf die unterschiedliche Fassadengestaltung verzichten können. Hat man aber nicht.»

Das ist genau die Krux: Man hat hier absichtlich schön gebaut. Warum? Der Architekt Denzler antwortet auf Umwegen: «Wir haben uns lange überlegt, welcher Baustoff sich am besten eignet und haben schliesslich Sichtbeton der Funktionalität wegen gewählt, eine solide, standhafte Substanz. Eine, die das Innen und das Aussen dieser Übungsanlage zusammenfasst.» Innen mussten schliesslich robuste Räume für das viele echte Feuer her, draussen genauso. Deshalb hätte eine (wie übrigens ursprünglich geplant) Hollywoodkulisse aus Karton wenig Sinn gemacht. Und weil man Beton giesst, kann man ihn formen, weshalb Denzler sagt: «Man hätte den Beton auch unproportioniert giessen können. Aber warum würde man das tun, wenn man schon die Möglichkeit hat, etwas schön zu gestalten?»

Der Architekt will ästhetisch bauen, und daran ist nichts verkehrt. Ausser eben es handelt sich um ein öffentliches Gebäude mit einem öffentlichen Auftrag und um eine saftige Summe staatliche Gelder. Die Projektleiter des neuen AZA rechtfertigen die Ästhetik im Namen der Authentizität. Schliesslich bedingt eine solide Vorbereitung auf den Ernstfall ein reales Setting. Das wird die Psychologie bestätigen. Lautet der Gedankengang folglich so: real gleich schön – und schön halt gleich teuer?

Laurent Stalder, Professor für Architekturgeschichte und -theorie an der ETH Zürich sagt: «Solchem Denken liegt ein oberflächlicher Schönheitsbegriff zugrunde. Schönheit hat nicht mit finanziellen Fragen zu tun. Das ist ein Kurzschluss.» Und fügt hinzu: «Schön ist nicht gleich teuer und teuer ist nicht gleich schön.» Idealerweise könnte man an dieser Stelle eine Summe nennen, die eine unschöne Variante des neuen AZA beziffern würde. Eine solche Zahl existiert aber natürlich nicht. Vielmehr geht es hier aber um die Frage, weshalb das neue AZA den Anspruch erheben darf, gleichzeitig funktional sowie schön zu sein? Der ETH-Professor sagt: «Architektur ist mehr als nur ein Gebrauchsgegenstand, sie ist auch Ausdruck unserer Gesellschaft. Sie nicht nur als Nutz-, sondern auch als Kunstobjekt zu verstehen, sollte bei öffentlichen Bauten eine Selbstverständlichkeit sein.»

In Andelfingen steuert Erich Wipf auf die Kantine zu. Es ist kurz vor Mittag. In den Gängen ruhen sich die Teenager der Jugendfeuerwehr aus. Einige dösen vor sich hin, andere starren ins Nichts und lauschen dem, was ihnen die Kopfhörer zuspielen. Die meisten haben die schweren Stiefel abgestreift. «Bist du Vegi?», fragt Wipf und schiebt zwei Tablare mit Besteck in Richtung Auslage. Auf dem Menü stehen Maispasteten gefüllt mit Brätkugeln und Erbsen, dazu Randensalat und eine kleine Currysuppe.

Am Tisch starrt Wipf aus dem Fenster. Er staunt, dass auf der anderen Seite des Feldes eine Lokomotive vorbeizieht. Ihr dicker, weisser Rauch malt sich in den blauen Himmel hinein. Er erzählt von den vielen Unfällen, die er als Feuerwehrmann erlebte, nach 14 Leichen habe er aufgehört zu zählen. Er erzählt von seinen vier Kindern, vom Garten, der viel zu tun gibt. Obwohl er nicht mehr über Ästhetik und Architektur sprechen mag, lässt er noch eine letzte Frage zu, schmunzelnd, und verschränkt die Arme vor der Brust. Wirken die für 21 Millionen Franken erstellten Neubauten des Ausbildungszentrums Andelfingen schön, weil man Qualität und Schweizer Handwerk erkennt? Die rechten Winkel sind schliesslich solche, die Fassadengestaltung ist symmetrisch, der Beton sauber gegossen, man sucht vergebens nach Unregelmässigkeiten.

Wipf rümpft die Nase, zuckt die Schultern, holt Luft. «Ich sage nur so viel, das Resultat ist hervorragend. Ich musste aber immer wieder alle daran erinnern, dass es nicht nur schön aussehen, sondern auch funktionieren muss.» Das tut es. Das belegen Zahlen. Das sieht man, wenn man hier ist. Diese Anlage ist Hightech pur. Per Knopfdruck entstehen ganze Flammen- und Rauchmeere. Alles ist temperaturüberwacht, in den Wänden werden die Brandzellen abgesaugt und nach höchsten, umweltfreundlichen Standards entsorgt. Alle Gebäude sind unterirdisch miteinander verbunden und dieser sogenannte Medientunnel kann gar geflutet werden. ADL, TLF, PTF, Container, Autowracks und Puppen stehen den Instruktoren zur Verfügung, um praxisnahe Übungsszenarien zu simulieren. Zweifelsohne: In Sachen Funktionalität hat man hier reüssiert.

Weshalb aber ist die Ästhetik hier berechtigt, ja wichtig? Weil das Ausbildungszentrum Andelfingen nicht nur ein Übungsgelände für den Katastrophenschutz, sondern auch ein Übungsgelände für ästhetische Perfektion ist. Das nimmt sich die Schweizer Architektur heraus. Dafür steht sie ein. Denn sie erhebt den Anspruch, solid und für die Ewigkeit zu bauen. Schweizer Handwerk und Schweizer Qualität sind nicht umsonst weltberühmt. Sorgfältig ausgeführte Handwerkskunst, die sich in der Qualität niederschlägt, kann das Empfinden von Ästhetik hervorrufen. Das passiert unweigerlich, wenn man in Andelfingen durch die ktive Römerstrasse geht. Deshalb sagt Cyrill Denzler, der Architekt, berechtigterweise: «Auch, wenn die modernen Betonklötze nicht allen gefallen, machen sie trotzdem etwas mit einem.»

Er hat Recht. Die Betonklötze sind solid und standhaft, exakt gebaut, ohne Risse und Dellen. Das Auge erkennt Präzision. Das Schweizer Können löst ein, was es verspricht: Es ist durchdachtes Konzept, es ist smart. Auch Sandra Kaufmann, Co-Leiterin des Studiengangs Industriedesign an der Zürcher Hochschule der Künste, verwendet das Wort smart, wenn sie über Funktionalität und Schönheit spricht. Sie sagt: «Ästhetik und Funktion gehören zusammen. Ein Objekt kann als schön wahrgenommen werden, weil es raffiniert ist, weil es überrascht oder weil es funktional perfektioniert ist – im Englischen würde man smart sagen.» Sie erklärt denn auch, dass Ästhetik nicht nur Schönheit und somit sinnlos sei, sondern dass sie eine Funktion habe, und zwar eine emotionale. Die positive Wahrnehmung sorge dafür, dass man sich im jeweiligen Kontext geborgen, ja wohl fühlt.

Auch das widerfährt einem im Kulissen- und Trümmerdorf im Herzen des Zürcher Weinlands. Das Ausbildungszentrum Andelfingen ist also: smart. Es erfüllt seinen Zweck. Es ist gesellschaftlich relevant und funktioniert einwandfrei. Gleichzeitig diente es als Übungsgelände für vier junge Architekturbüros, die hier jedes einzeln an einem gemeinsamen Grossen gearbeitet haben. Genau das macht das neue AZA zu einem öffentlichen Bauprojekt mit Vorbildcharakter. Es geht hier um eine Erfolgsgeschichte. Eine einzige grosse, mühsame Übung, wenn man nur die ganzen Off-the-record-Aussagen erzählen lassen könnte! Nicht nur Erich Wipf wollte die Architekten zum Teufel jagen. Alle wollten alle zum Teufel jagen. Alle allen an den Kragen. Doch heute sind sich alle einig, sagen unisono: Wir sind zufrieden, es funktioniert, es gefällt. Oder in Erich Wipfs Worten: «Das Resultat ist hervorragend.»

Das einzig richtig Merkwürdige, das sich über das Ausbildungszentrum Andelfingen erzählen lässt, ist, dass sich hier, und zwar ausgerechnet in der Industriebrandanlage, ein Paar das Jawort gegeben hat. Das wäre doch gleich noch eine Geschichte: die Ästhetik des Jaworts. 

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Diese Geschichte wurde auch auf Englisch übersetzt und veröffentlicht.

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