23.09.2018, NZZ am Sonntag

House-Watching im Grünen

In den Sommermonaten öffnen ausserhalb von New York City Architektur-Ikonen und ehemalige Künstler-Residenzen ihre Türen. Wir stellen drei Highlights vor, die jeweils in einem ­Tagestrip gut erreichbar sind – auch ohne Auto

Von Stephanie Rebonati

Wer New York im Sommer besucht, trifft auf eine elektrisierende Energie, die einen erschlagen kann. Man spürt den Herzschlag der Stadt. In den Parks finden täglich Konzerte, Film- und Theatervorführungen statt. In rooftop- Bars wimmelt es vor Leuten, und auf den Treppen vor den Wohnhäusern versammeln sich Nachbarn, um zu tratschen, zu essen, Jazz, Rap und Soul zu spielen. Dann pulsiert und bebt der Big Apple. Wenn es im Betondschungel dann so richtig heiss wird, kommt ein Tagesausflug ins Grüne ganz gelegen – besonders, wenn dieser kulturell genauso anregend ist wie der Ausgangspunkt.

1 – Glass House, New Canaan, CT
Wind rauscht durch die vollen Baumkronen, Insekten surren. Unter den Füssen zischelt der Kieselweg, und links im hohen Gras steht ein lustiges Gebäude aus Kubus, Trichter und Turm. Seine Farbe – ein Rätsel. Muffig-sattes Taupe? Schokoladenmilch? Später trifft man auf ein Zitat des Architekten: «Es ist ein Gefühl, keine Farbe.» Weiter unten kommt man an einer kreisförmigen Betonskulptur von Donald Judd vorbei. Ein süsser Vorgeschmack auf das, was hier, in der hügeligen Landschaft von New Canaan im Bundesstaat Connecticut, in Sachen Kunstgeschichte folgen wird.

Dann öffnet sich der Blick auf ein Haus aus Glas. 9,6 Meter breit, 16,8 Meter lang. Es ist das Herzstück des Anwesens, eine Ikone des Modernismus, das Glass House von Philip Johnson. Der 2005 verstorbene, grosse Architekt der Moderne schuf sich hier zwischen 1949 und 1996 gemeinsam mit seinem Lebenspartner David Whitney auf 19 Hektaren Land ein Lebenswerk. Es besteht aus 16 freistehenden architektonischen Strukturen, darunter ein Kletterturm, eine bunkerartige Galerie mit Warhols, Rauschenbergs und Stellas, eine Bibliothek mit Stühlen von Frank Gehry und ein Pavillon mit Bogengewölben am Ufer eines Teiches.

Johnson beschrieb sein Zuhause als «das Tagebuch eines exzentrischen Architekten». Hier baute, experimentierte und lebte er während 56 Jahren, und hier starb er 98-jährig im Schlaf. Die reduzierte Ästhetik, der offene Grundriss und der kühlende, dunkelrote Ziegelschornstein, der als Boden dient, beruhigen und erleichtern das Fokussieren. Schaut man aus dem Glass House hinaus in die endlos saftig-grüne Weite, erscheint die Welt draussen als ein Gemälde. Es ist ein entzückendes Spiel für die Sinne, bewusst orchestriert von Johnson, für den die Landschaftsgestaltung ein immanenter Teil der architektonischen Praxis war.

New Canaan ist manikürt und protzt vor Geschichte. Koloniale Häuser mit Einfahrt und Portikus reihen sich hier an Bauten der berühmten Architekten-Gruppe Harvard Five, der auch der Bauhaus-Schüler Marcel Breuer angehörte. Die Gruppe stand unter dem Einfluss von Walter Gropius, der den Architektur-Studiengang leitete, und kam in den 1940er Jahren hierher, um ihre Visionen in die Tat umzusetzen.

2 – Pollock Krasner House, Springs, NY
Der Ausflug nach Springs, einem kleinen Weiler bei East Hampton auf Long Island, ist abstrakt, in vielerlei Hinsicht. Im Friedhof, dem Green River Cemetery, trifft man auf auffällig viele grosse Künstlernamen des 20.Jahrhunderts, unter ihnen Ad Reinhardt, Stuart Davis und Elaine de Kooning. Auch das Ehepaar Jackson Pollock und Lee Krasner ist hier begraben – zwei riesige Findlinge liegen, wo die beiden Vertreter des abstrakten Expressionismus ruhen.

Während des kurzen Spaziergangs der Landstrasse entlang kann man mit etwas Glück einem Weisswedelhirsch beim Grasen zusehen, bevor man beim Pollock Krasner House ankommt, welches das Paar ab 1945 bewohnte, um der Hektik Manhattans zu entkommen. Es ist ein ehemaliges Gehöft aus dem Jahre 1879. Von der grossen Wiese aus blickt man auf ein Meer aus hüfthohem Weidelgras, hinter dem sich ein mooriges Naturreservat erstreckt. In der Scheune neben dem Haus entstanden die grossformatigen Werke Pollocks, die heute in den weltweit wichtigsten Sammlungen hängen und bei Auktionen für bis zu 140 Millionen Dollar verkauft werden.

Der höchste Betrag, den der Maler zu Lebzeiten für ein Gemälde erhielt, betrug 8000 Dollar. An der Führung erfährt man, dass Pollock seine beliebten apple pies an lokalen Märkten verkaufte, um das Haushaltsgeld aufzubessern. In der Küche, in der er einst buk, entdeckt man Keramikdosen mit den deutschen Begriffen «Gries» und «Zucker» in Schnörkelschrift; überall liegen Muscheln und Steine, weil Lee Krasner sie so gerne sammelte, und wer Bücher mag, wird entzückt sein – in den Regalen stehen Kafka und Joyce neben Bänden über die Russische Revolution und das prähistorische Irland.

Der mit Farbspritzern übersäte Holzboden des Ateliers, den man mit Finken sogar betreten darf, ist ein Kunstwerk für sich. Fotos an den Wänden zeigen Pollock bei der Arbeit, wie er in Jeans und Stiefeln Farbe auf die auf diesem Boden liegende Leinwände schüttet, träufelt und schmeisst – wie er seinen inneren Empfindungen Ausdruck zu verleihen sucht. Die physische Überlappung, die hier stattfindet, wird für den Gast zur abstrakten Erfahrung.

3 – Manitoga, Garrison, NY
Es ist nur schwer nachvollziehbar, dass das, was man hier in den dichten Wäldern von Garrison, New York, sieht, einst ein Steinbruch war. Farne schmiegen sich ans Ufer eines natürlich wirkenden Pools. Ein schmaler Weg führt an leuchtendgrünen Mooslandschaften und blühendem Berglorbeer vorbei. Die hellrosa Blüten mit ihren roten Zeichnungen erinnerten den amerikanischen Industriedesigner Russel Wright an kleine Schalen mit Erdbeereis – deshalb pflegte er seinen Gästen genau an dieser Stelle diese Süssspeise zu servieren.

Doch Wright hatte für Besucher noch mehr in petto. Er stattete sie mit einem Gehstock aus und schickte sie so auf Wanderungen, die er über 34 Jahre hinweg minuziös ausgelegt und mit einheimischer Flora bepflanzt hatte. Sein Wunsch war es, «die amerikanische Kultur der Natur näherzubringen». Er taufte sein 30 Hektaren umfassendes Zuhause Manitoga, was in der Sprache der hier einst heimischen Algonquin-Indianer «Ort grossen Geistes» bedeutet.

Inmitten dieser choreografierten Landschaft baute der Designer, dessen Entwürfe heute ­Mid-Century-Design-Ikonen sind, zwei Gebäude, die durch eine Kletterpflanzenpergola miteinander verbunden sind. Das Haupthaus wurde in den Felsen hineingebaut, so dass der naturbelassene Stein als Boden dient. Die Glasfassade lässt die Grenze zwischen drinnen und draussen zusätzlich verschwinden.

Schaut man vom Wohnzimmer in die Küche hinunter, erblickt man eine hübsche Komposition. Auf einem runden, weissen Tulip Table von Eero Saarinen wurde aufgetischt: «American Modern», Wrights Vermächtnis. Die farbige Geschirrserie aus Keramik ist die meistverkaufte in der Geschichte der USA. Auch erkennt man Charles Eames’ DSW-Fiberglasstühle, nur musste Wright deren Füsse austauschen, weil der raue Steinboden zu uneben war.

Das mit Zedernholz ausgestattete Atelier ist kleiner und intimer. Die tiefe Decke oberhalb von Wrights Arbeitsplatz besteht aus einem Gemisch aus Verputz und Nadeln der Schierlingstanne, wohl, um auch hier die Barriere zur Natur auszuradieren.

Nach dem Tagesausflug ins Grüne fühlt sich die Rückkehr nach New York City wie ein weiteres Abenteuer an. Am besten, man flaniert in den warmen Abendstunden durch das East Village und setzt sich in eines der vielen Lokale, wo die Cocktails gut sind und die Musik spielt.

AUF EINEN BLICK:

1 – Glass House
Architekt Philip Johnson und Kurator David Whitney lebten bis 2005 im ikonischen Glass House. Das Paar hinterlässt eine Kunstsammlung, die auch besichtigt werden kann.

Jeweils Do–Mo, Mai–Oktober, ab Grand Central mit der Metro-North New Haven Line bis New Canaan, etwa 1 h 13 min; theglasshouse.org

2 – Pollock-Krasner House
Ein ehemaliges Gehöft von 1879 und eine Scheune als Atelier – Jackson Pollock und Lee Krasner lebten und arbeiteten ab 1945 in einem ­idyllischen Weiler auf Long Island.

Jeweils Do–Sa, Mai–Oktober, ab Penn Station mit der Long Island Rail Road bis East Hampton, dann per Taxi nach Springs, etwa 2 h 50 min; stonybrook.edu/pkhouse

3 – Manitoga
Industriedesigner Russel Wright verwirklichte für sich und seine Tochter ein modernistisches Paradies abseits der Zivilisation und inmitten des Waldes.

Jeweils Fr–Mo, Mai–November, ab Grand Central mit der Metro-North Hudson Line bis Garrison, per reserviertem Taxi zum Anwesen, etwa 1 h 20 min; visitmanitoga.org

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