06.10.2013, NZZ am Sonntag

Im Paradies der Büchernarren

The Strand in New York ist die grösste Buchhandlung der Welt. Hier treffen sich Stars und Stadtoriginale. Vom zerlesenen Krimi bis zur illuminierten Bibel ist alles zu haben. 

Von Stephanie Rebonati, New York
Fotos: Andrew H. Walker

Jessica Strand fährt sich durch die braunen Locken, sinkt in den Bürostuhl und verschränkt ihre trainierten Arme und Beine. «Was möchten Sie wissen?», fragt sie. «Was das Schrägste war, was ich hier jemals erlebt habe?» Die Eventmanagerin des Strand Book Store an der Ecke Broadway und 12. Strasse im New Yorker East Village erzählt von einer Lesung, in der Unterhosen durch die Luft flogen. Das war im April 2012.

Damals präsentierte der Schauspieler, Künstler und Autor James Franco sein neues Buch «The Dangerous Book Four Boys». Der sogenannte Rare Book Room der Buchhandlung, in der die Lesungen stattfinden, die Jessica Strand organisiert, war zum Bersten voll. Junge Frauen und Männer kreischten, knipsten und schenkten dem für seine Rolle in «Spiderman» berühmten James Franco Uhren, Pralinen, Liebesbriefe und farbige Tangas. «Das war eindrücklich», erinnert sich die Eventmanagerin, «da standen Leute neben Büchern aus der Renaissance und fielen wegen eines 35-jährigen Hollywood-Beaus fast in Ohnmacht!»

Der Strand Book Store unterhalb des Union Square in Downtown Manhattan ist ein seit 1927 unabhängiges Familienunternehmen. Die Kunstbuchabteilung und die antiquarische Sammlung sind die grössten der Welt. Beim Sortieren sollen Angestellte über die Jahre durchschossene Bücher, Geldscheine, Testamente, Geständnisse und Signaturen berühmter Persönlichkeiten gefunden haben. Laut der neusten Zählung im Dezember 2011 umfasst das Sortiment 2,5 Millionen Bücher.

Patti Smith hat hier gearbeitet
Es herrscht keine Aufregung, wenn man neben Woody Allen oder Martin Scorsese in den Regalen stöbert. Auch Filme werden hier gedreht: 2009 die Komödie «Julie & Julia» mit Meryl Streep und 2010 das 9/11-Drama «Remember Me» mit Robert Pattinson. Stylisten und Designer leihen für Shootings, Werbespots und mondäne Dinnerpartys ganze Buchkollektionen und Bibliotheken aus. Die Sammlungen von Steven Spielberg, Ralph Lauren und des Hotels Waldorf Astoria wurden von The Strand zusammengestellt.

In den Siebzigern arbeitete Patti Smith im Archiv des Strand, als sie noch niemand «Godmother of Punk» oder Rocklegende nannte. In ihren Memoiren schreibt sie, dass sie an den Wochenenden Flohmärkte nach Erstausgaben, signierten und vergriffenen Büchern durchstöberte, um sie ihrem Arbeitgeber zu verkaufen und so ihr Salär aufzubessern. Auch Tom Verlaine, der später Frontman der New Yorker Rockband Television wurde, und der belgische Schriftsteller Luc Sante arbeiteten vor ihren grossen Karrieren in der Buchhandlung am Broadway. Patti Smith kehrte 2010 zurück, um ihre Memoiren «Just Kids» zu präsentieren.

Auf Jessica Strands Schreibtisch liegt eine angerissene Packung getrockneter Mangoschnitze. Während des Gesprächs bietet die Kalifornierin, die seit 1998 neun Kochbücher publiziert hat, die tieforangen Schiffchen mehrmals an. Ihr Büro ist fensterlos und mit Papierstapeln und Kisten überfüllt. Ein gerahmtes Filmplakat von Vladimir Nabokovs «Lolita» lehnt zusammen mit einer violetten Yogamatte an der Wand, daneben Joggingschuhe und verschiedene Akku-Geräte von Apple.

Man könnte es meinen, aber der Nachname von Jessica Strand hat nichts mit dem Strand Book Store zu tun. 1927 benannte Gründer Benjamin Bass seine kleine Buchhandlung nach der Londoner Strasse «Strand», an der Ende des 19. Jahrhunderts Schriftsteller wie Charles Dickens und Thomas Carlyle residierten. Mit einem Eigenkapital von 300 Dollar und einem privaten Darlehen in gleicher Höhe eröffnete Benjamin Bass The Strand zunächst an der New Yorker Bookseller’s Row, einer knapp 500 Meter langen Strecke zwischen der 8. und 14. Strasse der 4th Avenue entlang. Hier befanden sich zwischen 1890 und 1960 rund vier Dutzend Antiquariate, 1988 schloss auch das allerletzte seine Türen. The Strand, seit 1957 an neuer Adresse, ist die einzig überlebende Buchhandlung aus jener Zeit.

1957 übernahm Benjamin Bass’ Sohn Fred die Geschäfte und erstand die Liegenschaft an der Ecke Broadway und 12. Strasse, wo im obersten Stock in der Abteilung der Raritäten noch immer das Originalparkett von 1901 unter den Füssen knackt. Hier oben wird klassische Musik gespielt, geflüstert und sorgfältig nach Büchern gegriffen, zu kostbar ist das, was hier in schweren Holzregalen und Vitrinen ruht.

Eine Bibel für 65 000 Dollar
Darren Sutherland, ein kleiner Mann mit orangem Bart, ist der Abteilungsleiter der Raritäten im Strand Book Store. Seine graublauen Augen leuchten, wenn man sich nach der neusten Anschaffung erkundigt. Er desinfiziert seine Hände, streift weisse Handschuhe über und flüstert: «Come with me.» Hinter seinem Schreibtisch steht ein unauffälliger Safe, den er aufschliesst, um in Zeitlupe ein Buch herauszunehmen und es auf einen Tisch zu legen. Es ist das zweite Buch Mose mit 24 farbigen Lithografien von Marc Chagall auf handgeschöpftem Japanpapier, im Dezember letzten Jahres akquiriert. Es kostet 65 000 Dollar.

Jessica Strand knabbert an einem weiteren Mangoschnitz und sagt, dass sie Chagall nicht möge, sie sei ein Miró-Fan. Sutherland erwidert: «Es scheint Mode zu sein, Chagall zu dissen. Ich finde ihn grossartig sentimental.» Jessica Strand verdreht die Augen. Darren Sutherland zeigt ein anderes Werk, sein Lieblingsbuch: Albrecht Dürers «Vier Buecher von menschlicher Proportion» aus dem Jahre 1532, gebunden in Kalbsleder und mit Blumenmustern geprägt. Es kostet 20 000 Dollar.

In derselben Vitrine liegen «Orlando», signiert von Virginia Woolf, für 1500 Dollar und «Moby-Dick» mit Federzeichnungen von Rockwell Kent, ein Schnäppchen für 150 Dollar, «ein angemessenes Geburtstagsgeschenk», wie der Journalist James Tarmy im April dieses Jahres in der «Bloomberg Muse» schrieb. Für den etwas grosszügigeren Schenker, schrieb Tarmy, käme auch die US-Erstausgabe von Bernd und Hilla Bechers «Anonyme Skulpturen» für 2000 Dollar durchaus in Frage.

Jessica Strand und Darren Sutherland verlieren sich in einer Diskussion über Chagalls Kirchenfenster und Mirós Keramikwände im Unesco-Gebäude in Paris. Sie sagen abwechselnd: «Oh my god!» und «Are you kidding me?». Weiter hinten im Raum flaniert eine junge Frau in Jeans und weissem Leinenhemd an den Regalen vorbei. Ihr Baby hat sie mit einem farbigen Tuch an die Brust gebunden.

Seit 1978 dabei
Ein Vier-Personen-Lift führt von der Abteilung der Raritäten ins Erdgeschoss, wo Studenten, Touristen, Kinder und Stadtoriginale zwischen den engen Regalen und um die Bücherinseln herumnavigieren. Eine Sektion ist New York gewidmet. Hier sind Reiseführer, Memoiren, Biografien und laminierte Strassenkarten für Besucher und Einheimische aufgereiht. Daneben ein Turm aus Science-Fiction-Taschenbüchern und ein Tisch mit «Staff Picks» – Empfehlungen der Angestellten inklusive Porträtbild und E-Mail-Adresse.

Die Mitarbeiter im Strand Book Store sind belesen und hilfsbereit. Wenige Stichworte reichen für sie, um herauszufinden, welches Buch oder welche Art von Geschichte man sucht. Auf ihren Namensschildern steht zum Beispiel: «Benjamin. Ask me». Der 64-jährige Benjamin McFall arbeitet seit 1978 im Strand am Broadway und nennt den «Boss» Fred Bass eine Vaterfigur. Sucht man nach Romanliteratur, ist er der Profi, er leitet die Abteilung seit über dreissig Jahren. Er erinnert sich an Susan Sontag, «a regular», und David Markson, der stets verlangte, dass seine Bücher prominenter ausgestellt wurden.

Der «New York Times» sagte Benjamin McFall, der in Brooklyn mit seinem Lebenspartner lebt, im Januar dieses Jahres: «Ich muss keine eigenen Kinder haben, all diese jungen Leute sind meine Kids.» Er meinte die vielen Studenten, die als Nebenjob im Strand arbeiten, und die vielen Schauspieler, Schriftsteller und Künstler, die wie er einst nach New York gezogen sind, um hier den Durchbruch zu schaffen, aber zwischen den Regalen hängengeblieben sind.

«You can only choose one, darling»
In einer Ecke deckt sich eine japanische Reisegruppe mit Souvenirs ein, Caps werden anprobiert, verschiedene Thermosflaschen und Schlüsselanhänger miteinander verglichen. Bei den Kinderbüchern erklärt eine schwarze Nanny einem weissen Mädchen, dass es die im Kinderwagen angesammelten Malbücher zurücklegen muss: «You can only choose one, darling.»

In der Kunstbuch-Abteilung jubelt ein junger Mann: «Jackpot!». Für zehn Dollar hat er einen lang gesuchten Katalog von Georgia O’Keeffe gefunden. Er liebe die blauen Aquarelle der amerikanischen Malerin, erzählt er. Seine Begleitung, eine Schmuckdesignerin, ist ebenfalls fündig geworden. Grinsend stemmt die Brünette ein schweres Buch in die Luft: «A World of Bracelets», eine Sammlung antiker Armreifen, sortiert nach Kultur und Religion.

The Strand wird heute von Nancy Bass Wyden geführt, der Enkelin des Gründers Benjamin Bass. Sie steht, seit sie 16 ist, ihrem Vater Fred zur Seite. Verheiratet ist sie mit dem demokratischen Senator Ron Wyden, zusammen haben sie drei Kinder, die heute zwar noch klein sind, aber in ein paar Jahren vielleicht das Familienunternehmen in vierter Generation führen werden.

Nancys Vater Fred arbeitet noch immer vier Tage die Woche im Strand und akquiriert Bücher aus aller Welt. Am 28. Juni feierte er seinen 85. Geburtstag mit einer Dinnerparty im Rare Book Room seiner Buchhandlung. Seine Ehefrau Pat, mit der er seit 63 Jahren verheiratet ist, die Enkelkinder und auch Persönlichkeiten wie Calvin Trillin, ein Journalist, der seit 1963 regelmässig für «The New Yorker» schreibt, waren dabei.

Hier unten im Erdgeschoss brummt die Menschenmasse wie ein Bienenschwarm, alle Augen sind auf Bücher gerichtet, geschätzt und geliebt liegen die Geschichten in den Händen von Charakteren aus aller Welt. Von draussen sind Sirenen, Hupen, das Stöhnen des New Yorker Verkehrs zu hören. An der Kasse werden Bücher, Lesezeichen, T-Shirts und Stofftaschen eingelesen, bevor man mit der obligaten Strand-Plastictüte an einem Türsteher vorbei zurück in die Metropole eintaucht.

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