12.03.2018, NZZ Bellevue

So entspannt wohnt sich der «California Dream»

Die kalifornische Fotografin Leslie Williamson ist für ihre stimmungsvollen Bilder von modernistischen Häusern und Innenräumen bekannt. In «Interior Portraits», ihrem neuen Buch, zeigt sie nun Wohnräume von Künstlern und Designern, die den California Dream leben.

Von Stephanie Rebonati

Gemäss Wikipedia ist der oft besungene California Dream ein psychologisches Phänomen: eine Art Motivation, schnell reich oder berühmt zu werden. Für Leslie Williamson ist das zu einseitig, und zu eng mit dem Gold Rush um 1849 verbunden. Nach ihren zwei Publikationen «Handcrafted Modern» (2010) und «Modern Originals» (2014), die von europäischen Architekturikonen wie etwa Walter Gropius, Le Corbusier und Alvar Aalto handelten, suchte sie nach einem neuen Narrativ – und fand es vor ihrer Haustüre. Ihre Heimat. Kalifornien. Und der Traum, der damit einhergeht.

Doch wie formuliert man etwas, das mehr Gefühl als Begriff ist, fragte sie sich. «Interior Portraits» ist ihre Antwort. 13 reich bebilderte Portraits von Personen, die in Kalifornien leben und wirken, und die Williamson mit Individualismus und Kreativität gleichsetzt. Übrigens dieselben zwei Begriffe, mit denen sie ihre Version des California Dreams umschreibt.

Ein Bildhauer in der Wüste
Alma Allen hat den Ruf eines Einsiedlers, was ihm behagt. Er lebt in der Wüste Südkaliforniens, im malerischen Joshua Tree, weit weg von Dichtestress und Kunstzirkus. Er ist Bildhauer, wird mit Brancusi und Noguchi verglichen, von einer der renommiertesten Galerien vertreten und in Feuilletons für seine «sinnlich biomorphen Formen» gelobt. Es war ein langer Weg hierher. Als 16-Jähriger rannte er von Zuhause weg und zog nach New York, wo er auf den Strassen Sohos kleine Holzschnitzereien verkaufte, um die Miete zu bezahlen. Aus der Not wurde Berufung, er wurde gesammelt und ausgestellt.

Und dann die Diagnose: Karpaltunnelsyndrom, eine schwerwiegende Erkrankung des Handgelenks. Er beschaffte sich einen Roboter, der fortan für ihn schnitze, meisselte und kerbte. So entstanden die grossen, sinnlichen Skulpturen, für die er heute berühmt ist. Doch das Scheinwerferlicht missfällt ihm. Er mag die Wüste, die Weite und den Horizont – seine Definition von Freiheit, sein Refugium. Hier baute er sich sein Haus aus Backstein, Beton, Holz und Glas. Füllte es subtil mit Gefundenem und Gesammeltem, mit Designstücken von Eileen Gray bis George Nelson und kleinen Schnitzereien, die er als Bub gefertigt hatte. Das Haus wirkt ruhig und besonnen, genau wie die Wüstenlandschaft, die es umgibt.

Ein Architekt im Archetypus
Ray Kappe verkörpert den kalifornischen Traum, denn er gab ihm eine Form. Er entwarf und baute ihn, bettete ihn in die Landschaft ein, vereinte Architektur mit Natur. Es ist mitunter ihm zu verdanken, dass wir heute ein Bild vor uns haben, wenn wir an kalifornische Wohnkultur denken, dieses verlockende California Living. Der heute 91-jährige Architekt prägte dieses Bild während 60 Jahren und denkt nicht ans Aufhören.

Heute beschäftigt er sich mit Baumodulen, Solarsystemen und Stadtentwicklung. Er baut nicht einfach Häuser, sondern gestaltet Lebensräume, die Lebensqualität im Fundament tragen. Genau wie sein eigenes Haus in Pacific Palisades im Westen von Los Angeles, das er 1967 fertigstellte und in dem er zusammen mit seiner Frau drei Kinder grosszog. Es ist ein modernistisches Raumschiff aus Holz, Beton und Glas. Mit verschiedenen Geschossen, vielen Pflanzen, Primärfarben, Büchern, Muscheln, Steinen und Keramik. Natürlich hat es einen Pool, natürlich fehlen die grossen Fensterfronten nicht, welche die Natur in den Wohnraum bringen. Dass Leute um Hausbesichtigungen bitten oder gar an der Haustüre klopfen, stört die Kappes keineswegs. Denn genau so reisten sie damals mit ihren kleinen Kindern durch Europa, um dort die Archetypen des Modernismus zu entdecken.

Modemacherin in der Wunderkammer
Christina Kim lebt in einem unkonventionellen Raum in Downtown Los Angeles. Man möchte ihn als Industrieloft beschreiben, als Showroom, Museum, Atelier, Archiv oder Shop. Doch es ist wohl am ehesten eine Wunderkammer. Keine üppig gefüllte wie es das mittelalterliche Vorbild vorschreibt, sondern ein sorgfältig und leidenschaftlich gestalteter Raum, in dem es viel zu entdecken gibt. Auf einem tiefen Tisch stehen milchige Glasgefässe, auch Bücher, Skulpturen und etwas, das wie Textilmuster aussieht, wurden inszeniert.

An einem Ort baumelt Papel Picado von der Decke, eine Art Papiergirlande aus filigranen Scherenschnitten. Dann eine Kleiderstange mit Christina Kims aktueller Kollektion; Kleider, Blusen und Hosen aus luftigen Stoffen, unter Anwendung traditioneller Herstellungsverfahren nachhaltig produziert. Gegenüber befindet sich ein Bücherregal unterm Fenster, ein paar kleine Holzhocker davor. Ein Taj Mahal aus Lego gibt’s auch. Gewiss, Christina Kim richtet nicht nur ein, sondern kuratiert. Vielleicht, um sich einen Überblick zu verschaffen. Denn sie ist vielbeschäftigt: neben der Mode macht sie auch Kunst. 2016 kollaborierte sie etwa mit dem Schweizer Architekten Peter Zumthor für eine Textilinstallation an der Biennale in Venedig.

Ein Möbeldesigner verewigt daheim
Der 2009 verstorbene Amerikaner Sam Maloof nannte sich zeitlebens weder Designer noch Künstler. Er bevorzugte «woodworker», Holzhandwerker – weil es ehrlicher war. Auch lehnte er Konzerne mit ihren Millionenverträgen ab, die seine für Einfachheit und Funktionalität gelobten Möbel und Objekte massenweise produzieren wollten. Sam Maloof war einer der Gründerväter der amerikanischen Studio Craft Bewegung und seine Werke befinden sich heute in den permanenten Sammlungen renommierter Museen. Dies sowie die vielen Auszeichnungen, die er im Laufe seiner Karriere erhielt, bedeuteten ihm wenig. Sein Zuhause war sein Meisterwerk, wo er lebte und arbeitete. Ein Ort, den er zusammen mit seiner Frau Alfreda ein Leben lang gestaltete.

Das Haus in Rancho Cucamonga am Fusse des San Gabriel Gebirges im Südwesten Kaliforniens unterliegt keinem Konzept. Das Ehepaar erweiterte es Raum für Raum, wann auch immer es die Finanzen zuliessen. Und trotzdem erkennt man einen roten Faden: überall begegnet man liebevoll inszenierten Gegenständen, beeindruckender Schreinerei und Spuren eines geteilten, kreativen Lebens. Anscheinend hört man, genau wie damals, Geräusche aus der Werkstatt, die heute von einem ehemaligen Assistenten Sam Maloofs weitergeführt wird.

Buch: Leslie Williamson, «Interior Portraits», Rizzoli 2018

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