04.10.2019, Powernewz

Fünf Designerinnen, die in Kreisläufen denken

Wir haben fünf Schweizer Gestalterinnen in fünf Städten besucht, die in den Bereichen Textil-, Industrie- und Produktdesign an zukunftsweisenden Lösungen arbeiten, die sich allesamt an den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft orientieren. Was die fünf Frauen zu Vorreiterinnen macht: eine Haltung, die auf Interdisziplinarität und Nachhaltigkeit fusst.

Von Stephanie Rebonati
Bilder: Filipa Peixeiro

Im Lager eines Bieler Uhrenantiquariats steht die Vulkanisierpresse, die Veronica Antonucci kürzlich erstanden hat. Damit möchte sie künftig Acrylglasreste zu Platten zusammendrücken, aus denen sie Ohrringe lasern wird. Während draussen die grünblaue Limmat in Richtung Baden vorbeirauscht, gleiten im Innern der einstigen Baumwollspinnerei Wettingen transparente, schallabsorbierende Textilien durch die Hände von Annette Douglas. Sie sind eine Weltneuheit und sie ist die Erfinderin.

Lisa Ochsenbein erzählt in einem Zürcher Altbau vom analogen System der Nachbarschaftshilfe, das sie 2012 initiierte und das heute von Moskau bis Los Angeles angewandt wird. Stéphanie Estoppey klickt in einem Basler Hinterhof durch eine Präsentation, die Begriffe wie circular design und value hill erläutert. Es ist das Vokabular, mit dem sie ihr Denken in Kreisläufen dingfest macht. Im Nebenraum einer Sattlerei in Riedbach bei Bern ist ersichtlich, was aus dem Abfallprodukt der lokalen Störzucht entstehen kann. Sabina Brägger wandelt Fischhäute in Leder um und näht daraus Taschen und andere Accessoires.

Was wie Zukunftsmusik tönt, sind bewährte Produkte und Konzepte, die allesamt von Designerinnen stammen, die sich zwar eigenständig positionieren, im Kollektiv aber auf einen gemeinsamen Nenner verweisen: Es ist die interdisziplinäre Denk- und Arbeitsweise, die den Designberuf ausmacht und ihn gesellschaftlich derart relevant macht.

Es ist aber auch die verknüpfende und vorausschauende Kompetenz der Designerin, die zur Kassandra wird und der hoffentlich bald geglaubt wird, wenn sie wiederholt: Wir müssen die gesamte Wertschöpfungskette berücksichtigen, wenn wir produzieren und konsumieren, und wir müssen diese so gesund, robust und langlebig gestalten wie nur möglich. Diese Botschaft hingegen, die an ein nachhaltiges Miteinander appelliert und vielerorts als Kreislaufwirtschaft zusammengefasst wird, ist tatsächlich Zukunftsmusik, die durch die Arbeiten der fünf Designerinnen aber Eingang ins kollektive Bewusstsein finden kann.

Upcycling:
Ohrringe, die Sozialpolitik einflüstern

Wenn Veronica Antonucci Objekte in der Hand hält, tut sie dies mit einer Behutsamkeit, die einem auffällt. Und wenn sie von ihren Beweggründen spricht, blickt man in ein offenes Gesicht, das es ernst meint. In ihrem Atelier in der Bieler Altstadt steht eine Aloe Vera auf dem Sims, es ist ein Erbstück. Auf dem Goldschmiedetisch liegen eine Feile und Handskizzen, und in einer grauen Kiste unter dem Bücherregal versammelt sich das, was sie in der lokalen Industrie bei Leuchtschriftenproduzenten kiloweise einkauft: PMMA-Reststücke. Die vier Majuskeln stehen für den langen Namen eines Kunststoffes, den man auch Acryl- oder Plexiglas nennt.

Mit dem Laser schneidet die 37-Jährige daraus geometrisch abstrakte, leuchtendblaue und tiefviolette Formen, die von der 60er-Jahre-Pop-Art der Schweizer Kunstschaffenden Susi und Ueli Berger, Markus Raetz und Urs Lüthi inspiriert sind und die von Menschen mit Behinderung in der Bieler Stiftung Dammweg zu Ohrringen montiert werden. Ohrringe, die international gefeiert werden: an Designmessen von Rom bis Helsinki, und kürzlich rief gar die britische «Vogue» an.

Dass es der ehemaligen Sozialarbeiterin sowohl um Nachhaltigkeit wie auch um Zugänglichkeit geht, ist an ihren Kampagnen zu erkennen: Für die aktuelle Kollektion posiert die schweizerisch-somalische Bloggerin Shadia Hanan Black. Sie trägt ein bunt gemustertes Kopftuch und goldene Upcycling-Ohrringe von Vanto, dem gerade mal einjährigen Label, das laut Antonucci «für alle» ist und das gekonnt Industrieabfall in modische Kleinobjekte verwandelt, die Grosses zu verkünden haben. 

Materialeinsparung:
Hightech-Akustikstoffe werden zu Kunstwerken

Annette Douglas hat Muskelkater. Am Wochenende war sie im Pizol-Gebirge unterwegs. Doch die 48-jährige Pionierin ist schon viel länger auf Tour: Sie feiert 20 Jahre Selbstständigkeit an der Schnittstelle von Textildesign und Engineering – einer Nische, die sie sich selbst erschaffen hat. Vor ihrem Atelier, das im Vorwerk der einstigen Baumwollspinnerei Wettingen daheim ist, rauscht die Limmat in Richtung Baden vorbei.

Drinnen gleiten die Finger von Douglas, die in der vierten Generation in der Textilbranche tätig ist, über ein leichtes, transparentes Textil, das Schall in Wärme verwandelt und Räume akustisch aufwertet. Die 2011 lancierte Silent Space Collection aus nachhaltig produziertem, europäischem und schwer entflammbarem Polyester ist eine Weltneuheit und Hightech pur. Douglas war die erste Schweizer Designerin, die mit der Kommission für Technologie und Innovation ein Forschungsprojekt durchführte und mit dem Forschungsinstitut EMPA eine Rezeptur für das exakte Weben von Fasern entwickelte.

Dank ihr müssen schallabsorbierende Lösungen nicht mehr materialintensive, aufwendige Deckeninstallationen oder dicke Vorhänge sein, sondern können als sinnliche Materialien und in Form ortsspezifischer Installationen zu Kunst werden: als Trompe-l’Oeil im Konzertsaal des Toni Areals etwa, wo aufgestickte Wellen den hellgoldenen Vorhang in einen Fluss verwandeln, der optisch entzückt, in erster Linie aber optimale Hörbedingungen schafft. «Smart textiles» – diesen hat sie sich verschrieben, und man ist gespannt, was Douglas in den nächsten 20 Jahren noch alles auf den Markt bringen wird. Vorhang auf!

Schnittstellenaktivierung:
Design, das Menschen und Disziplinen verlinkt

Die zweieinhalb Wochen junge Maris schlummert im Maxicosi, als ihre Mutter Lisa Ochsenbein strahlt und sagt: «Ich war überrascht.» Sie spricht vom langjährigen SBB-Chefarchitekt Uli Huber, der sie im März als «förderungswürdige Gestalterin» mitauszeichnete, als er den Berner Design Preis erhielt. Ein Drittel des Preisgeldes ging an die 34-jährige Industriedesignerin, die mit Vorliebe Schnittstellen aktiviert, «weil dort am besten erkennbar wird, was alles gestaltbar ist».

2012 lancierte sie Kleber, mit denen Nachbarn am Briefkasten signalisieren, welche Haushaltsgeräte sie zum Teilen anbieten. Die Online-Karte von «Pumpipumpe» zeigt, dass von Moskau bis Los Angeles geteilt wird und Berlin es am meisten tut – bisher wurden insgesamt 24’000 Sticker-Bögen bestellt. 2013 wandelte sie mit «Co-Factory» flüssigen Restbeton (es fallen stets 1 bis 3 Prozent an) in Veloständer, Schalen und Ziegel um – direkt auf der Baustelle. Seit 2015 koordiniert sie am Design and Technology Lab die Tandemprojekte zwischen Industriedesignern der Zürcher Hochschule der Künste und Mascheningenieurinnen der ETH und beackert so ein interdisziplinäres Feld, das sie als das fruchtbarste erachtet.

Als die späte Nachmittagssonne den liebevoll eingerichteten Altbau im Zürcher Kreis 6 in Wärme taucht, meint man anhand der vielen Bücher, handgemachten Objekte und dem Balkon mit Cherry-Tomaten und Peperoni zu verstehen, in was für einer Welt die beiden Töchter der Ochsenbeins aufwachsen: in einer achtsamen, die den Überblick behält, dabei die Details aber nie aus den Augen verliert.

Kreisbewegungen:
Zirkuläre Produkte leben länger

Stéphanie Estoppey malt ein Mobile in die Luft und verwendet das Bild als Metapher: Als Designerin, Geschäftsführerin, Mutter und Mitglied der Gesellschaft geht es ihr um eine Balance. Sie ist eine, die den Überblick im Auge behält und sich als Vermittlerin sieht: «Zusammenhänge verstehen, Potenziale ausschöpfen und Werte hochhalten», seien ihre Botschaft und Verantwortung, weshalb sie im Juni die Charta der Circular Economy Switzerland unterzeichnete, einer Schweizer Organisation, die der hiesigen Kreislaufwirtschaft einen Schub geben möchte.

Die 34-Jährige lacht viel, wirkt unkompliziert und strukturiert. In ihrem Büro im Basler Hegenheimerquartier hält sie inne, um eine kleine Schale aus getrockneten Blättern zu bewundern, ein Mitbringsel aus Indien. Dann hantiert sie mit Prototypen eines wiederauffüllbaren Behälters, bevor sie den Bürostuhl Rotavis erklärt: Er mobilisiert Becken und Wirbelsäule, weil sein Sitz sich kreisförmig bewegt, seine Teile sind reparier- und wiederverwertbar, und die Polsterung lässt sich dank Klett auswechseln, wenn Material oder Ästhetik erneuert werden müssen.

Das mache ihn «ewig gut» und zu einem Produkt des circular design. Seine Langlebigkeit verdankt er seiner Wertschöpfungskette, die von Grund auf von Estoppey mitkonzipiert wurde, die deshalb fordert, dass Kunden und Designer bereits in der Konzeptphase zusammenspannen. «Mir geht es nicht darum, den Zeigefinger zu heben», sagt sie, «sondern um eine Sensibilisierung», mithilfe der die Welt eine Chance erhalten würde, ihre Balance wieder zu finden.

Fachübergreifend:
Wenn sich Fischhäute und Holzzoggeli zusammentun

Sabina Brägger hat eine Vorliebe für alte Dinge. Ihr liebstes Objekt im Atelier, das sich in der ehemaligen Ladenfläche des Sattlers nebenan befindet, ist eine hellblaue Rössler-Tasse. Federn und botanische Zeichnungen bilden eine Inspirationswand über ihrem Arbeitstisch, der zum Bauernhaus ihres Urgrossvaters hinüberblickt. In ihren Sätzen kommt sie rasch zum Punkt, ihr Strahlen ist golden – und die Dinge, die nimmt sie gerne selbst in die Hand, «dann wird’s erledigt».

Sie trägt an diesem Nachmittag, an dem ein leichter Wind die Baumkronen der hohen Akazien wiegt, zwei Prototypen: Holzzoggeli, ein Projekt mit dem Basler Label Tokushuu. Was sich über ihre Fussrücken legt, wie Baumrinde ausschaut und sich wie Kork anfühlt, war mal ein Fisch, der im Tropenhaus Frutigen lebte, das Kaviar und Störfleisch produziert. Die Störhäute wurden als Abfallprodukte verbrannt, bevor Brägger kam, die als Bachelorarbeit ein Verfahren erarbeitete, das Fischhaut zu Leder macht und dabei ausschliesslich pflanzliche Gerbstoffe einsetzt.

Sie schuf ein neues Material und sich einen Namen, plus eine Nische – und doppelte mit ihrer Masterarbeit nach: Wolle aus dem Fell des Bisons, der drei Haarqualitäten besitzt, die Brägger als neue Chancen erkennt. Die 30-Jährige hat einen feinen Sinn für Materialien und Zusammenhänge, und vielleicht hat es mit ihrer Vorliebe für alte Dinge zu tun, dass von den Handtaschen, Uhrenbändern und anderen Accessoires, die sie in Riedbach bei Bern aus Störleder näht, eine Patina ausgeht, die Vertrautheit auslöst.

Blick in die Zukunft: Auf den Ton kommt es an

Veronica Antonucci möchte bald Vasen und Lampen entwerfen, die derselben Upcycling-Philosophie entspringen wie ihre Ohrringe aus industriellen Acrylglasresten. «Objekte erzählen Geschichten», sagt sie und blickt in ihre Handfläche, in der eine knutschgrüne, geometrische Form liegt. Sabina Brägger ist auf Kapitalsuche, um die Kratzbäume und Auffangbecken in Angriff zu nehmen, die sie auf Bisonfeldern in ganz Europa errichten möchte, um das leichte Fell im Tonnenbereich zu sammeln. «C’est le ton qui fait la musique», sagt Stéphanie Estoppey und verwendet das Sprichwort, um ihre Strategie als Vermittlerin des zirkulären Designs zu umschreiben: Mit positiven Botschaften will sie Kundinnen und Konsumenten für das dringliche Thema Kreislaufwirtschaft sensibilisieren.

Plötzlich erinnert sich Lisa Ochsenbein, dass sie einer Nachbarin die Pastamaschine zurückgeben muss. Mit der kleinen Maris im Tragetuch und dem italienischen Edelstahl-Klassiker unterm Arm wird sie irgendwo im Quartier klingeln und so jemanden grüssen, den sie ohne den Kleber am Briefkasten gut möglich nie getroffen hätte – lokal, analog, querbeet. Ausserhalb ihres Ateliers steht Annette Douglas auf der Gwagglibrugg, einer der ältesten Hängebrücken der Schweiz, die sich 45 Meter über der Limmat erstreckt. Die spätsommerliche Mittagssonne gibt alles, der Fluss verbreitet sein vertrautes Rauschen, und die Textilpionierin sagt: «Ich werde immer an der Schnittstelle tätig sein.»

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Webdesign und Webagentur Zürich