15.12.2019, Sonntagsblick Magazin

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Ohrringe aus Acrylglasresten, Taschen aus Fischhäuten und Kleider aus Orangenschalen: Drei selbständige Schweizer Designerinnen stellen aus Abfallprodukten Neues her.

Von Stephanie Rebonati
Bilder: Filipa Peixeiro, Nina Egli, Laetitia de Chocqueuse

Was wie Baumrinde ausschaut und sich wie Kork anfühlt, war mal die Haut eines Sibirischen Störs, der in den Zuchtbecken des Tropenhauses Frutigen im Berner Oberland seine Runden drehte. Der Knochenfisch mit dem schnabelförmigen Maul wird bis zu drei Meter lang, 200 Kilo schwer und ist als Erzeuger von Kaviar bekannt. Das Tropenhaus produziert davon jährlich fast eine Tonne. Die grätlosen Filets werden verkauft, frisch oder geräuchert. Für die Haut des Störs gab es aber keine Verwendung. Bis Sabina Brägger kam.

Die 30-jährige Textildesignerin hat ein gutes Gespür für Zusammenhänge. Vielleicht hat es mit ihrer Liebe für alte Dinge zu tun, dass sie ihren Taschen und anderen Accessoires eine Art Patina verleiht. Brägger näht die Produkte in Riedbach bei Bern aus Störleder. Ja, Störleder. Während ihres Textildesign-Studiums an der Hochschule Luzern entwickelte sie 2013 als Bachelorarbeit ein Verfahren, das Fischhaut zu Leder macht. Dabei setzt sie ausschliesslich auf pflanzliche Gerbstoffe.

Der Anstoss kam von ihrer Mutter. Sie erfuhr an einer Führung im Tropenhaus Frutigen, dass die Störhaut als Abfallprodukt der Fischzucht verbrannt wurde. Brägger schuf nicht nur ein neues Material für die Schweiz (im Ausland ist Fischleder bekannt), sondern sich auch einen Namen. Dank ihrer Nische ist sie heute selbständig, «was eigentlich gar nie der Plan war», wie sie sagt.

In ihrem Atelier, von dem sie zum Bauernhaus ihres Urgrossvaters hinüberblicken kann, deutet sie auf ihre Füsse, wo sich ihr jüngstes Produkt zeigt: Holzzoggeli, eine Zusammenarbeit mit der Basler Marke Tokushuu. Das, was sich über ihren Rist legt, wie Baumrinde ausschaut und sich wie Kork anfühlt, war mal ein Sibirischer Stör. Brägger beschäftigt sich derzeit auch mit Kratzbäumen und Auffangbecken, die sie auf Bisonfeldern in ganz Europa aufstellen möchte, um abgestreiftes Fell zu sammeln: Bisonwolle, das ist die nächste Kreislaufwirtschaft. Brägger möchte sie im grossen Stil in Gang setzen.

Inspiriert von der Schweizer 60er-Pop-Art
Wenn Veronica Antonucci Objekte hält, tut sie dies mit einer Behutsamkeit, die einem auffällt. Und wenn sie von ihren Beweggründen spricht, blickt man in ein offenes Gesicht, das es ernst meint. Auf ihrem Goldschmiedetisch liegen Feilen und Skizzen, und in der grauen Kiste unter dem Bücherregal sammelt sich das, was sie in der lokalen Industrie bei Leuchtschriftenproduzenten kiloweise einkauft: PMMA-Reststücke. Die vier Majuskeln stehen für den langen Namen eines Kunststoffs, den man auch Acryl- oder Plexiglas nennt.

Mit dem Laser schneidet die 37-Jährige daraus geometrisch abstrakte Formen, die von der 60er-Jahre-Pop-Art der Schweizer Künstler Markus Raetz (78) und Urs Lüthi (72) inspiriert sind und die Menschen mit Behinderung in der Bieler Stiftung Dammweg zu Ohrringen montieren. Die Ohrringe werden international gefeiert: an Designmessen von Rom bis Helsinki sowie in den Hochglanzseiten der britischen «Vogue» und in «Harper’s Bazaar».

Dass es der ehemaligen Sozialarbeiterin Antonucci sowohl um Nachhaltigkeit wie auch Zugänglichkeit geht, ist an ihrer Modelauswahl zu erkennen: Für die aktuelle Kollektion posiert die schweizerisch-somalische Bloggerin Shadia Hanan Black. Sie trägt ein moosgrünes Kopftuch und knutschblaue Ohrringe von Vanto, dem rund einjährigen Label, das laut Antonucci «für alle» ist und das gekonnt Industrieabfall in modische Kleinobjekte verwandelt. Ihren eigenen Abfall, der beim Lasern anfällt, drückt Antonucci übrigens seit kurzem mit einer Vulkanisierpresse zu neuen Acrylplatten zusammen.

Die heutige Modeindustrie verschmutzt die Umwelt
Ressourcenverschwendung, soziale Ungerechtigkeit, Umweltverschmutzung: Die Modeindustrie gilt nach dem Erdölgeschäft als der schmutzigste Sektor überhaupt. Um dies zu ändern, denken Textildesigner und Forscher zunehmend in Kreisläufen – wie an der jungen, italienischen Firma Orange Fiber zu erkennen ist.

Aus den 700 000 Tonnen Orangenschalen, die in Italien jährlich nach der Saftgewinnung zurückbleiben, haben Studentinnen an der Polytechnischen Universität in Mailand eine vegane Zellulose produziert, die seit ihrer Erfindung 2014 mehrfach ausgezeichnet wurde. Textilinnovationen wie diese bieten Modedesignern Alternativen, die sie in Form von Kleidung als nachhaltige Optionen anbieten können.

Die Zürcherin Nina Egli (42) tut genau das mit der aktuellen Kollektion ihres Labels Family Affairs: Ein Kleid und eine Bluse bestehen aus Orange Fiber. Auf das Textil, das Salvatore Ferragamo 2017 auf den Laufsteg brachte, stiess sie durch ihren Produzenten in Delhi. «Er weiss, dass ich geschmeidige, nachhaltige Materialien mag, und meinte, das sei der perfekte Stoff für mich.»

Egli, deren verspielte Kreationen von Berühmtheiten wie Lena Dunham (33) und Alexa Chung (36) getragen werden, setzt nicht zum ersten Mal ein veganes Textil ein, eines aus industriellem Abfall hingegen schon. «Ich finde es schön, mir vorzustellen, dass ich mit diesem Stoff, der sich wie schwere Seide anfühlt, im Grunde Orangenschalen trage.»

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Webdesign und Webagentur Zürich