03.08.2019, St. Galler Tagblatt

Raus aus New York – rein in die Geschichte

Historische Bauten und ein weitläufiges Tal: Das Hudson Valley nahe der Metropole bietet ein willkommenes Kontrastprogramm zum Städtetrip.

Von Stephanie Rebonati
Bild: Jaime Martorano

Wer New York City, diesen grossartig vielseitigen und launischen Betondschungel, besucht, dem bietet sich ab einer Stunde nördlich der Metropole ein anregendes Kontrastprogramm. Wälder, Wanderwege, Seen und Berglandschaften. Das weitläufige Hudson Valley mit seinen vielen Ortschaften lockt zudem mit einer hohen Dichte an historisch bedeutsamen Gebäuden, die von Mai bis November zugänglich sind, um amerikanische Geschichte am Original zu erleben.

Es ist ein sonniger Vormittag. Insekten surren durch den Garten, Gänse spazieren über den Kies. Die Idylle trügt, denkt man immer wieder. Die, die während der Führung beim Vornamen genannt werden, Dina, Sue, Flip und Tom, gehörten Adolph Philipse, einem holländischen Loyalisten, Politiker und Menschenhändler. Dank einer Inventarliste weiss man, wie seine 23 Sklaven hiessen.

Zu Besuch beim ersten Milliardär der USA
Wir befinden uns auf einer Zeitreise zurück ins Jahr 1750 und nach Sleepy Hollow. Einem, übersetzt man wörtlich, verschlafenen Nest in der britischen Kolonie New York. Die Philipsburg Manor, ein 1693 errichteter Gutshof, liegt inmitten der hügeligen Landschaft des Hudson Valleys und ist das erfolgreiche Import-Export-Unternehmen von Philipse. Irgendwann steht man im Schlafzimmer dieses Mannes. Man sieht ein Backgammonspiel, ein Himmelbett und einen ovalen Holzkopf, auf dem einst seine Perücke sass.

Draussen bei der Wassermühle erzählt ein Museumsführer, wie Ceaser pro Tag mehr als 2000 Kilogramm Weizen mahlte. Im Keller deutet er auf Kirne, in denen Dina und Sue abgeschöpften Rahm zu Butter stampften. In der Scheune riffelt man gleich selbst Flachsbüschel, eine anstrengende Angelegenheit, die von Kindern ausgeübt wurde. Nach der zweistündigen Tour kommt die Verschnaufpause am verwitterten Holzzaun gelegen.

Wem nach der Philipsburg Manor nach einer weiteren Geschichtslektion ist, steige in den Shuttlebus nach Kykuit, dem 40-Zimmer-Anwesen von Ölmagnat John D. Rockefeller. Mit seinem 1870 gegründeten Erdölraffinerie-Unternehmen wurde er zum ersten Milliardär der USA. Kykuit ist vom Holländischen kijkuit inspiriert und bedeutet Ausguck, was sich rasch als Understatement herausstellt.

Die Residenz, die von vier Generationen Rockefellers bewohnt wurde, steht auf dem höchsten Punkt des Weilers Pocantico Hills. In der Auffahrt begegnet man dem griechischen Gott Okeanos, der sich als Skulptur in einem Granitbecken aufbaut. Hinter ihm erstreckt sich das grünblaue Hudson Valley einem Gemälde gleich zum Horizont. Aus dem Staunen kommt man nicht: Feinste Polstermöbel, funkelnde Kronleuchter und antike Vasen illustrieren den Reichtum der republikanischen Familie. Im Untergeschoss hängen Tapisserien von Picasso, die für Vizepräsident und Gouverneur Nelson Rockefeller gefertigt wurden, einem Sprössling der dritten Generation. Gut möglich, dass seine Mutter Abby ihn dazu bewog, in moderne Kunst zu investieren: 1929 gründete sie das Museum of Modern Art, heute eine der bedeutendsten Kunstinstitutionen. Die Führung endet im Garten von Kykuit, den man Park oder Skulpturenparcours nennen möchte.

Am Entstehungsort bedeutender Literatur
Bescheidener zeigt sich Sunnyside, das ehemalige Zuhause des Schriftstellers Washington Irving, die letzte Station des Tagesausflugs. Das mit Efeu und Glyzinien bewachsene Cottage steht am Ufer des Hudson und ist der Entstehungsort von Irvings «The Legend of Sleepy Hollow» von 1820, eine der berühmtesten Kurzgeschichten der amerikanischen Literatur. Im Innern entdeckt man die Welt eines Sammlers, Details deuten auf einen neugierigen Bewohner und beflissenen Leser. Draussen wiegen Platanen im Wind und während man auf das Wasser hinausschaut, meint man zu verstehen, weshalb hier historisch bedeutsame Literatur entstehen konnte.

DOWNLOAD PDF

Webdesign und Webagentur Zürich