29.10.2013, Südostschweiz

«Sandy hat die Schwächen New Yorks brutal offenbart»

Justin Wedes initiierte nach Hurrikan «Sandy» ein Netzwerk freiwilliger Helfer und mobilisierte über 70 000 New Yorker. Ein Jahr nach der Katastrophe zieht er eine negative Bilanz. Seine Stadt sei verletzlicher als je zuvor.

Von Stephanie Rebonati, New York
Fotos: Victoria Schultz / Mark Lennihan

Herr Wedes, ein Jahr ist seit Supersturm «Sandy» vergangen, und noch immer ist New York mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Was spielt sich ab?
Justin Wedes: Bis vor wenigen Wochen hat die Regierung Familien finanziell unterstützt, die immer noch nicht in ihre Häuser zurückkehren konnten. Anders als nach «Katrina» in New Orleans wurden in New York keine semipermanenten Notfallunterkünfte errichtet; Bürgermeister Michael Bloomberg wollte sie nicht. Mit den bezahlten Hotels ist nun aber Schluss, und viele finden bei Familie und Bekannten Unterschlupf, wie direkt nach dem Sturm; nur ist das nicht die Lösung.

Wie sieht die Lösung aus?
Die Lösung wäre eine langfristig und nachhaltig funktionierende Gemeinschaft, in der Regierung und Nicht regierungsorganisationen koexistieren und zusammenarbeiten und von einem identischen Verständnis von Solidarität ausgehen. «Sandy» offenbarte die politische und architektonische Schwäche New Yorks auf brutalste Weise, die sozialen Ungerechtigkeiten wurden schlagartig sichtbar. Die Regierung war schlichtweg nicht fähig, allen Betroffenen Sicherheit zu geben. Viele fühlen sich noch heute im Stich gelassen. Der Hauptstoss einer Katastrophe trifft die sozial Schwächeren immer am härtesten.

Wie hat sich Ihre Arbeit seit «Sandy» verändert?
Kurz nach dem Sturm ging es darum, Menschen aus überfluteten Häusern zu holen, Decken und Essen zu verteilen, warme Duschen und Schlafmöglichkeiten anzubieten. Zwei Kalifornier fuhren zum Beispiel mit einem Truck, beladen mit Werkzeugen, Kleidern und Möbeln, nach New York, weil sie uns helfen wollten. Nun konzentrieren wir uns auf Behausung, Sozialhilfe, psychologische Betreuung und den Wiederaufbau von lokalem Gewerbe. Wir müssen das Vertrauen und Selbstbewusstsein der Gemeinschaft stabilisieren, um langfristig stark zu sein.

Was tut New York City, um seine Infrastruktur zu stärken?
Nicht genug. Die Stadt ist verletz licher als je zuvor. Hurrikane, Überflutungen und der steigende Meeresspiegel sind schwer vorhersehbare Herausforderungen. Nicht Dämme und Mauern, sondern «soft designs», also weiche Architekturen wie Sandbänke und Bäume, werden diskutiert, um die Infrastruktur zu stärken. Das ist gut, nur ändert es an der durch menschliche Verschmutzung verursachten Klimaerwärmung nicht. Hinzu kommt: Auch in soziale Infrastruktur muss investiert werden.

Inwiefern?
Die Segregation schreitet rasch voran. Bürgermeister Bloomberg hat sich in seiner zwölfjährigen Amtszeit nie ein Bild davon gemacht, wie es ist, arm zu sein in New York City. Bevor ich mich 2011 bei Occupy Wall Street engagierte, unterrichtete ich an öffentlichen Schulen in Brooklyn, wo ich die Finanzkrise täglich zu spüren bekam. Schulen wurden geschlossen, Lehrer entlassen, keine Bücher mehr gekauft. Wenn die Regierung bei der Bildung spart, ist das ein brutaler Angriff auf die nächste Generation. Einkommensschwache Gemeinschaften vertrauen der Regierung nicht, weil sie für die Regierung nicht existieren. Das ist eines der grössten Probleme in diesem Land: 99 Prozent werden nicht gehört.

Darüber haben Sie am diesjährigen Forum der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD in Paris gesprochen.
Ja, ich habe über soziale Bewegungen, soziale Medien und die Beteiligung der Jugend an der Politik gesprochen. Wir stecken in einer Legitimitätskrise, und sie zwingt uns, Solidarität neu zu definieren. Spätestens seit der Finanzkrise misstrauen Menschen Regierungen, Banken und multinationalen Konzernen. Eine Reaktion darauf sind kleine Gruppen von Menschen, die sich zu Interessengemeinschaften zusammenschliessen, Occupy Wall Street oder Occupy Sandy, global gehörte, aber lokal verankerte Netzwerke. Die zwei Welten müssen einen Dialog finden, und dafür mache ich mich stark.

Ist das realistisch?
Ich bin fest davon überzeugt, dass die verschiedenen Verständnisse, also das monetär angetriebene und das sozial geprägte, koexistieren können. Wir müssen eine Wirtschaft und eine Demo kratie aufbauen, die nachhaltig und längerfristig funktionieren und ihren Akteuren Stabilität geben. Ich bin allerdings besorgt – nachdem die Fahrlässigkeit der Regierenden sich nun erneut in Form des Shutdowns gezeigt hat.

Occupy Wall Street, Occupy Sandy
Am 29. Oktober 2012 legte Hurrikan «Sandy» New York City lahm. Börse, Flughäfen, Tunnel und öffentlicher Verkehr blieben mehrere Tage geschlossen, knapp zwei Millionen Menschen waren wochenlang ohne Strom, im Stadtteil Queens brannten etwa 100 Häuser. Insgesamt 87 Leute starben in den USA, 48 davon allein in New York. Justin Wedes, 27-jähriger Lehrer, Aktivist und Gründungsmitglied von Occupy Wall Street, rief kurz nach dem Supersturm Occupy Sandy ins Leben, eine Initiative, die 70 000 freiwillige Helfer mobilisierte und bis heute einen bedeutenden Beitrag zum Wiederaufbau leistet. Justin Wedes lebt in Brooklyn und unterrichtet an der Paul Robeson Freedom School. (sr)

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