20.11.2013, Tages-Anzeiger

Der neue Kampf des Feminismus

In den Siebzigern kämpfte Janet Bentons Mutter für die Rechte der Frauen. Die Tochter blieb allein daheim. Heute blickt die amerikanische Journalistin auf eine Kindheit zurück, in der sie oft einsam war.

Von Stephanie Rebonati, Philadelphia
Foto: Roderick Aichinger

Als Janet Benton neun Jahre alt war, liessen sich ihre Eltern scheiden. Das war eine Zäsur für die bislang heile Familie. Der Vater zog aus, die Mutter verschrieb sich dem Feminismus, und die Tochter litt, weil ihre Mutter Anfang der Siebzigerjahre auf der Strasse für die Rechte der Frauen kämpfte, anstatt daheim für ihre Tochter zu kochen und ihr bei den Hausaufgaben zu helfen. In der Schule wurde sie gehänselt; Kopf- und Bauchschmerzen plagten sie.

Ihr Körper litt unter dem Unabhängigkeitsbestreben der Mutter. «Eine furchtbare Ironie», sagt Janet Benton, «die Emanzipation meiner Mutter führte zu meiner Isolation daheim.» Die Ideologie der Mutter und die Realität der Tochter klafften auseinander. Vorbei die Zeiten, als sie gemeinsam in der Küche Essen vorbereiteten. Diese Momente hatte sie geliebt. Nun langweilte sie sich nach der Schule und war oft einsam. Besuchte sie ihre Mutter im Kunstatelier im Keller des Wohnhauses, sagte diese: «Langeweile ist eine Chance.»

Die kleine Janet Benton begann Tagebuch zu schreiben. Heute ist sie Journalistin, Lektorin und Schreibcoach. Sie überarbeitete etwa die Autobiografie von Gerda Lerner, Pionierin der Frauengeschichtsforschung, und jene von Larry Kane, Anchorman im Nordosten der USA. Anfang Oktober publizierte sie in der Sonntagsausgabe der «New York Times» einen Essay über ihre Kindheit mit einer feministischen Mutter. Sie erhielt vorwiegend positive Leserbriefe.

Stereotypen verstehen lernen

An einem sonnigen Herbstmorgen sitzt sie in einem Konferenzraum in einem Backsteinhaus in Philadelphia. Das Haar rostrot, der Strickpulli türkis, die Hände ruhig im Schoss, das Lachen laut und herzlich. Sie ist fünfzig Jahre alt, Mutter einer zehnjährigen Tochter und Ehefrau eines Redaktors am Philadelphia Museum of Art. Sie nennt sich stolz Feministin: «Feministisch zu sein, heisst, die Welt anders wahrzunehmen, als was der Status quo uns offenbart.» Diese Denkweise sei für alle zugänglich.

Sie nennt ein Beispiel: «A farmer and his wife», ein gängiger Ausdruck im Amerikanischen. «Die Frau eines Bauers ist eine Bäuerin, weil eine Farm eine Einheit ist. Warum nennt der Volksmund sie nur Ehefrau?», fragt Janet Benton mit hochgezogenen Augenbrauen. Wenn Frauen in Büchern, die sie lektoriert, stereotyp beschrieben werden, spricht sie den Autor oder die Autorin darauf an. «Ich möchte verstehen, wie die Stereotypisierung der Geschichte dient», so erfahre man rasch, ob die klischierten Bilder absichtlich gezeichnet wurden.

Diese differenzierte Anschauung verdankt sie ihrer Mutter, der Künstlerin Suzanne Benton, die seit 1964 zu den Themen Feminismus und Transkulturalität referiert, ausstellt und Auszeichnungen entgegennimmt. Janet Benton spricht bewundernd von ihrer Mutter, «diese unaufhaltbare Kraft, so mächtig und wunderschön und endlich glücklich, sie hatte es verdient». Während des Gesprächs kommt aber immer wieder die kleine Janet zum Vorschein, und diese scheint noch immer verletzt zu sein. Thematisiert wird es indes nicht.

Der hohe Preis für Hackbraten

Damals als Mädchen und Teenager war es zwar schwierig einzuordnen, was in den Siebzigern vor sich ging, aber die Tochter wusste, dass ihre Mutter Grosses vollbrachte und auch für ihre Gleichberechtigung und Selbstbestimmung kämpfte. «Ich sah es in ihrem strahlenden Gesicht, sie schöpfte ihr Potenzial aus», erinnert sich Janet Benton. Die vielen hausgemachten Kuchen und Hackbraten, sie hatte sie vermisst, gewiss, aber rückblickend ist sie sich bewusst, dass sie einen hohen Preis gehabt hätten: eine unglückliche Mutter.

Suzanne Benton lehrte die Tochter Selbstachtung und Durchsetzungsfähigkeit. Sie zeigte ihr, dass Erzählungen in Geschichtsbüchern, in der Bibel und in den Medien von einer weiblichen Perspektive her gelesen oder gar neu interpretiert werden können. Nur in der Küche war sie nie mehr. Sie war für sie eine Falle, ein politisch umstrittener Ort.

Der diesjährige Muttertag hat Janet Benton aufgerüttelt: Ihre zehnjährige Tochter schenkte ihr eine Karte, die alle Dinge auflistet, die sie an ihr liebt. «Du kochst mittags und abends für mich», stand ganz oben auf der Liste. Im ersten Moment fühlte sich Janet Benton vor den Kopf gestossen. Warum war die Bereitstellung von Nahrung, was sie «food service» nennt, derart wichtig für ihre Tochter? Innert Sekunden holte ihre eigene Kindheit sie ein, und so realisierte sie zum ersten Mal, weshalb sie regelmässig kocht. «Die Küche ist mein Ort der Heilung», sagt sie. In der Küche teilt sie das mit ihrer Tochter, was sie in jungen Jahren einst mit ihrer Mutter teilte und dann so sehr vermisste. «Es geht hier nicht um Essen, sondern um viel mehr.» Bei ihr sei es die Küche, andere teilten wandernd die Liebe mit ihren Kindern oder singend im Auto auf der Heimfahrt von der Schule. «Wir müssen alle herausfinden, was für uns individuell funktioniert», sagt Benton und grinst, weil es so einfach klingt und doch so schwer ist umzusetzen - vor allem, wenn Strukturen und Optionen fehlen.

Es geht um die Kinderbetreuung und wie man diese mit dem Berufsleben in Einklang bringt. Kinder brauchten nun mal Liebe und Zuneigung. Sind Kinder konservativ? Janet Benton zögert, das sei eine heikle Frage. Tatsache sei, dass Kinder Fürsorge benötigten wie eine Pflanze Wasser. Die Gesellschaft müsse Optionen bereithalten, um das Familienleben zu gestalten. «Das ist in den USA nicht der Fall», sagt sie genervt. Teilzeitstellen seien rar, Vaterschaftsurlaub existiere nicht, und bezahlbare Hortplätze suche man vergebens.

Mit 39 hat sie ihr Team gefunden

Benton lebt mit ihrem Ehemann in Philadelphia. Nach der Geburt der Tochter war ihr klar, dass sie zu Hause arbeiten würde, sie lektorierte einen Roman mit dem zweiwöchigen Säugling an der Brust. Ihr Mann behielt die Festanstellung wegen der Sozialleistungen. Heute arbeitet sie, wenn die Tochter in der Schule ist. Er arbeitet von neun bis sechs und kommt nach Hause, wenn das Essen auf dem Tisch steht. Ein auf den ersten Blick konventionelles Familienleben. Möchte sie es besser machen als ihre Eltern? «Unser Rollenmodell klingt traditionell, aber ist es nicht. So funktioniert es halt für uns in der Gesellschaft, in der wir leben.»

«Sich um ein Kind zu kümmern, ist wohl das Tiefste und Schönste, was ich jemals erlebt habe», sagt sie. «Die Mutterschaft hat mich stark und selbstsicher gemacht, denn ich traue meinen Instinkten und meiner Intuition.» Aber es sei auch hart und nicht immer erfüllend - vor allem, wenn man vor die Wahl gestellt wird: Familie oder Karriere beziehungsweise Selbsterfüllung ausserhalb des Familienlebens.

Sie sinkt in den grossen, schwarzen Ledersessel, die Sonne scheint in ihr Gesicht. Eine Weile lang schweigt sie. Dann sagt sie vorsichtig in Erinnerung an die Scheidung der Eltern: «Ich verlor mein Team, als ich neun war. Erst als ich meinen Ehemann mit 35 kennen lernte und mit 39 unsere Tochter gebar, fand ich Heilung durch mein eigenes Team.»

Sie sagt nicht, ihre Eltern hätten alles falsch gemacht, bei weitem nicht. Sie ist sich bewusst, dass jede Generation ihre Kämpfe führt, ihre Mutter führte einen global bedeutenden. Sie kämpfte für ihre Tochter, die sich daheim grausam einsam fühlte, und sie kämpfte für ihre Enkelin, die nach der Schule einen Snack teilt mit ihrer Mutter.

Ja, der Feminismus habe sich verändert, das könne man so sagen, meint Janet Benton und klingt so, wie wenn sie laut denken würde. Sie setzt sich aufrecht in den Sessel, schaut aus dem Fenster und sagt langsam: «Wenn ich den heutigen Kampf des Feminismus definieren dürfte, dann ginge es um die Wichtigkeit der Erziehung im Einklang mit dem Berufsleben beider Elternteile.» Schliesslich sei doch das Ziel unserer Gesellschaft, dass die Akteure glücklich und erfüllt seien: «Nur so können wir gemeinsame Schritte in eine bessere Zukunft machen.»

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