29.08.2016, Tages-Anzeiger
Eine Million Dollar
Familienalbum
Marilyn Iten-Cannizzo, New York 1987
Von Stephanie Rebonati
Weil meine Mutter das jüngste von drei Kindern und das einzige Mädchen und weil sie ein ehemaliges Fotomodell ist, gibt es viele, viele Bilder von ihr. Doch dieses eine mit Lederjacke, Jeans und Dutt ist meine Lieblingsaufnahme.
Es zeigt sie 1987 als 23-Jährige in Manhattan. Eine junge Frau, die gerade den Collegeabschluss in Modedesign am Fashion Institute of Technology gemacht hat. Eine junge Frau mit Visionen. Eine Frau, die noch nicht Mutter ist. Als ich dieses Bild vor einigen Jahren entdeckte, löste es etwas in mir aus. Ich begann über das Frausein nachzudenken, begann, die verschiedenen Rollen meiner Mutter zu erkennen. Ich machte diese Überlegungen zu meinem Thema, befruchtet durch die vielen Gespräche mit meiner Mami. Heute weiss ich, was damals in mir ausgelöst wurde: die Auseinandersetzung mit Empathie.
Dass sie, die Tochter eines sizilianischen New Yorkers und einer Bernerin, auf diesem Bild so zeitlos und cool angezogen ist, überrascht mich nicht. Das ist sie heute noch. Sie setzt auf klassische und simple Schnitte, sie sieht in einem schwarzen Hosenanzug mit Heels und roten Lippen wie eine Million Dollar aus, in Jeans, T-Shirt und Flip-Flops morgens am Markt genauso. Meiner Mutter geht es um Qualität.
Als meine Grossmama noch lebte, liebte ich es, sie und meine Mutter zu beobachten, wie sie in Boutiquen oder an italienischen Märkten mit ihren schönen Fingern Stoffe berührten, über diese urteilten und Ideen für Kleider austauschten. Chiffon, Plissee, Crèpe de Chine – exotische Begriffe aus meiner Kindheit, die ich dank Mama und Mommy heute stolz verwende.
Meine Mutter 1987 in New York, so furchtlos und geheimnisvoll, hinterlässt eine offene Frage für mich: Hätten wir uns als junge Frauen denn auch gemocht? Zwei Jahre nach dieser Aufnahme wurde sie meine Mutter und mein Vorbild.
Stephanie Rebonati (27), Zürich, Journalistin und Lektorin, über den Stil ihrer Mutter Marilyn Iten-Cannizzo.
