21.04.2015, Tages-Anzeiger

Eine Pionierin endet im Irrenhaus

Emilie Kempin-Spyri, die Nichte von Johanna Spyri, war die erste Anwältin der Schweiz. Die Zürcher Regisseurin Rahel Grunder porträtiert sie in einem Dokumentarfilm.

Von Stephanie Rebonati
Foto: Reto Oeschger

Rahel Grunder weiss so manches über Spitäler aus den Sechzigern. Vor drei Jahren arbeitete die heute 33-jährige Zürcherin als Rechercheassistentin für die US-Erfolgsserie «Mad Men». Sie musste Identifikationsbändchen suchen, die Patienten in den Sechzigerjahren in Spitälern am Handgelenk trugen. Oder ein 1967 aufgenommenes Bild einer New Yorker Bar aufspüren, die es seit 1968 nicht mehr gibt.

Sie lacht, hat etwas Mädchenhaftes, etwas Verspieltes, trotz Blazer und Foulard. Während des Gesprächs fällt ihr immer wieder Neues ein, dann springt sie zu einer anderen Geschichte, ihre Hände reden ständig mit. Sie sagt: «Ich bin schwammmässig drauf.» Denn Informationen saugt die junge Regisseurin, die seit vier Jahren zwischen Zürich und Los Angeles pendelt, wie ein Schwamm auf.

Grunder erzählt in ihren Filmen Frauengeschichten und stellt umweltpolitische Fragen. 2007 porträtierte sie in «Frauenbauer» Schweizer Bäuerinnen, 2011 drehte sie die Dokumentarfilmserie «Hüeterbueb und Heitisträhl» über die historische Waldnutzung in der Schweiz. Letztes Jahr zeigte sie mit «Vaterjagd» ihren ersten Spielfilm – eine TV-Komödie über eine Headhunterin, die den perfekten Vater für ihr noch ungeborenes Kind sucht.

Am Donnerstag nun feiert ihr jüngster Film Premiere im Schweizer Fernsehen: «Emilie Kempin-Spyri» handelt von einer 1853 in Altstetten geborenen Pfarrerstochter, die zu schnell in Vergessenheit geriet.

Verstörende Krankenakte

Emilie Kempin-Spyri war die erste Frau, die sich in der Schweiz an der juristischen Fakultät einschrieb; sie war die erste Frau Europas, die als Doktorin der Rechte promovierte. Grunder verfolgt mit ihrem Dokumentarfilm das Ziel, Kempin-Spyri in die kollektive Erinnerung zurückrufen. «Die Schweiz soll diese Frau wieder kennen lernen», sagt sie. Einzig vier Fotografien, eine Handvoll Briefe und eine verstörende Krankenakte sind von ihr übriggeblieben. Selbst zwei Urenkelinnen, die Grunder ausfindig machte, wissen kaum etwas über ihre Urgrossmutter.

Ihr Geburtshaus aber steht noch – auf dem «Chilehügel» in Zürich-Altstetten, wo ihr Vater einst Pfarrer war. Kempin-Spyri heiratete ebenfalls einen Pfarrer, einen liberalen Geistlichen, der seine Frau in dem bestärkte, was sie tat: Sie rüttelte an den Rollenbildern und Gesellschaftsstrukturen, sie dozierte an der Universität Zürich und gründete in New York eine Rechtsschule für Frauen. Mit nur 48 Jahren starb sie in der Irrenanstalt Friedmatt in Basel.

Rahel Grunder spürte in der Zentralbibliothek Zürich und im Staatsarchiv Briefe von Kempin-Spyri auf. Sie reiste nach New York und erlebte die Stadt durch die Augen ihrer Protagonistin. Sie besuchte die psychiatrische Klinik, wo die Tagesrapporte der wegen «hysterischer Psychose» eingelieferten Juristin archiviert sind. Das waren die trübsten Stunden der Recherche. Grunder erzählt von verstörenden Dingen, die sie im Film aus Respekt nicht ausschlachten wollte. Von «herzzerreissenden Briefen», die Kempin-Spyri ihren drei Kindern schrieb, die diese aber nie erhielten. Sie sagt: «Ich wollte sie nicht als Opfer darstellen.»

Vielmehr malte sie das Porträt einer Heldin – unpathetisch, trotz der nachgestellten Szenen. Wurde Kempin-Spyri von den Behörden weggesperrt, weil sie zu mutig war? Eine Antwort gibt es nicht. Dafür weist der Film auf die Veränderungen und die Selbstverständlichkeit hin, dank deren es auch Rahel Grunder als Regisseurin schon so weit bringen konnte. Ganz so rosig möchte sie die Welt aber nicht sehen. Sie sagt: «Ich finde es krass, wie oft es noch immer vor allem Frauen sind, die beruflich zurückstecken, wenn es darauf ankommt.»

Ein «frecher Siech»

Als Tochter einer Kindergärtnerin und eines Sozialarbeiters in Zürich-Schwamendingen aufgewachsen, wollte Grun-der schon immer zum Film. Mit 19 schickte sie Charles Lewinsky eine Episode, die sie für die Sitcom «Fertig lustig» geschrieben hatte. Der Autor nannte sie einen «frechen Siech» und nahm sie in sein Autorenseminar auf. Nach dem Studium in Volkskunde hängte sie einen Master in Regie an, baute sich ein zweites Standbein in Los Angeles auf und unterrichtet seit 2008 an der Universität Zürich ein Sommerseminar in visueller Anthropologie.

«Emilie Kempin-Spyri», SRF 1, 23. April, um 20 Uhr.

Emilie Kempin-Spyri
Erste Schweizer Anwältin

Emilie Kempin-Spyri (1853 bis 1901) war die erste Schweizerin, die als Juristin promoviert wurde. Weil sie nicht als Anwältin tätig sein durfte, zog sie mit ihrer Familie nach New York, wo sie eine Rechtsschule für Frauen gründete. Später dozierte sie an der Universität Zürich. Nach der Scheidung und dem erfolglosen Kampf um die Anwaltszulassung wurde sie 1897 in eine Irrenanstalt eingeliefert, wo sie vier Jahre später starb. Eveline Haslers Roman «Die Wachsflügelfrau» (1991) widmet sich ihrem Schicksal. (sr)

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