14.01.2013, Tages-Anzeiger

Inspiriert von Tempo und Kreativität in New York City

Zwei Studenten aus Zürich absolvieren ein Auslandsemester und ein Praktikum im Big Apple.

Von Stephanie Rebonati
Foto: Roderick Aichinger

Eva Vuillemin (25)
Kunst studieren mit internationaler Konkurrenz
Eva Vuillemin ist 25 Jahre alt, Tochter der Schweizer Fotografin Ruth Erdt und möchte eines Tages selbst als Künstlerin tätig sein. An der Kantonsschule Stadelhofen absolvierte sie 2006 die musische Matura, danach den gestalterischen Vorkurs an der Zürcher Hochschule der Künste. 2008 begann sie an der Universität der Künste in Berlin Bildende Kunst zu studieren. «Ich musste einfach mal weg», sagt sie über ihren damaligen Entscheid, nach Deutschland zu ziehen. Eva Vuillemin kennt die Schweizer Kunstszene gut, mit ihrer Mutter geht sie seit klein auf an Vernissagen und in Ausstellungen, viele Akteure - darunter auch Dozenten an hiesigen Kunstschulen - sind Bekannte der Familie. Mutter und Tochter haben bereits gemeinsame Ausstellungen realisiert und ein Fotobuch veröffentlicht.

Eva Vuillemin weigert sich, als «die Tochter von» wahrgenommen zu werden. «Ich will mein eigenes Ding aufbauen und selbstständig sein», sagt sie heute in ihrem Atelier in New York. Hierher kam sie letzten August wieder aus demselben Grund: Sie musste «einfach mal weg von Berlin, um die Scheuklappen abzulegen und neue Inspirationsquellen zu finden». Pro Semester vergeben die Partnerschulen Universität der Künste in Berlin und das Hunter-College in Manhattan einen Studienplatz für Austauschstudenten. Eva Vuillemin bewarb sich und wurde gewählt. Das Hunter-College ist eine staatliche Uni, an der rund 22 000 Studenten in den Bereichen Kunst, Wissenschaft, Gesundheit, Pädagogik und Sozialarbeit studieren. Es wurde 1870 als Frauen-College gegründet, seit den 1950er-Jahren werden auch Männer aufgenommen. 1977 und 1988 erhielten zwei Hunter-Absolventinnen den Nobelpreis für Medizin.

Während Eva Vuillemin an der Universität in Berlin grösstenteils autonom an Projekten arbeitet und einem Professor zugewiesen ist, stehen am College in New York Team-Spirit und Konkurrenz gleichermassen auf dem Programm. Die Studenten sind international, ehrgeizig und organisieren sich in Kollektiven. In den vielen Seminaren hat Eva Vuillemin mit diversen Dozenten zu tun, muss regelmässig präsentieren und Hausaufgaben abgeben. «Das ist tough», sagt sie. Die Nachwuchskünstlerin besucht am Hunter-College Tutorien, die sich mit den ästhetischen, technischen und politischen Aspekten der Fotografie auseinandersetzen.

Für Kunststudentin Vuillemin eignet sich New York für ein Auslandsemester ideal, «weil man hier der Kunst so nahe ist». An öffentlichen Veranstaltungen hat sie bereits zwei grosse Vorbilder gesehen: die serbische Performance-Künstlerin Marina Abramovic und die französische Fotografin Sophie Calle. «Das ist so inspirierend!», schwärmt Eva Vuillemin. Auch das Tempo der Stadt, die Emotionen der Strassenmusikanten und die Sprache faszinieren sie: «Es gibt nur you, keine Sie-Form. Das erzeugt ein Visavis auf Augenhöhe.»

Weniger prickelnd sind die Ausgaben: 820 Franken bezahlt die Schweizerin monatlich für ein kleines Zimmer in Brooklyn, für Restaurantbesuche beträgt ihr Budget 10 bis 15 Franken, Geld für Shopping hat sie nicht, denn Priorität hat der Kauf von Material für ihre Kunstprojekte. «Ich wurstle mich durch», sagt Eva Vuillemin. Erspartes und ein kleines Darlehen helfen ihr dabei. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin im Frühling wird sie Meisterschülerin eines Professors - so werden Masterstudenten dort genannt.

Basile Specker (23)
Als Architekturstudent beim Installationskünstler
Basile Specker steht an der Kreuzung Broadway und East Houston im Stadtviertel Soho und beobachtet, wie sich der Verkehr vierspurig durch die Strassen wälzt. Unter seinem rechten Fuss ruht ein schwarzes Skateboard. «Diese Stadt haut mich immer wieder um», sagt er und schaut zu den Hochhäusern empor. Der 23-jährige Architekturstudent absolviert im New Yorker Studio des Schweizer Installationskünstlers Ugo Rondinone ein dreimonatiges Praktikum. Zusammen mit dem fünfköpfigen Team baut er Modelle, erstellt Dokumentationen, transportiert Material und Kunstwerke. Handwerklich tätig zu sein, das war ihm schon immer ein Anliegen.

Während und nach dem Langzeitgymnasium an der Kantonsschule Wiedikon arbeitete Basile Specker nebenbei als Landschaftsgärtner, Kellner, Verkäufer und bei Lindt & Sprüngli - und zwar aus Überzeugung: «Ich finde es wichtig, dass man mit Leuten aus allen Gesellschaftsbereichen reden und arbeiten kann», sagt er. 2009, am Anfang seines Architekturstudiums an der ETH Zürich, hatte er Mühe. Inhalte und Kommilitonen empfand er als «sehr kopflastig». Das beruhigte sich erst, nachdem ihn Modellbau und Architekturgeschichte im dritten Semester «so richtig gepackt» hatten.

Jeden Morgen nimmt Basile Specker die U-Bahn von Brooklyn nach Manhattan, kauft sich einen Kaffee und einen Bagel und läuft die paar Strassen vom Coffeeshop zum Studio. Die Arbeit beginnt um 10 Uhr, Feierabend ist um 18 Uhr, zu Mittag wird gemeinsam gegessen, Lohn gibt es keinen. Anders als in der Schweiz sind Praktika, sogenannte Internships, in den USA meistens unbezahlt. Das hält Basile Specker jedoch nicht davon ab, nach Feierabend den New Yorker Lifestyle zu geniessen; Bowling spielen, Tacos essen, auf dem Flohmarkt feilschen und im Untergrund pikante Drinks nippen. Seinen Aufenthalt in den USA finanziert er sich mit der Unterstützung seiner Eltern und mit persönlichen Ersparnissen. Das WG-Zimmer in Brooklyn kostet 760 Franken, für Essen, Ausgang, Kultur und Ausflüge gibt der 23-Jährige etwa noch mal so viel aus. Ein Budget hat er keines aufgestellt: «Ich weiss einfach, was drinliegt und was nicht», sagt der Praktikant.

In Zürich erwartet Basile Specker im Frühling eine Entscheidung: Masterstudium an der ETH oder noch weitere Praktika? «Ich habe keine Ahnung und lasse mich deswegen auch nicht stressen», sagt er. Ursprünglich wollte er ohnehin irgendwo in Europa ein Praktikum bei einem Schreiner absolvieren. «Vielleicht hole ich das noch nach», sagt er und spielt mit dem Skateboard unter seinem Fuss. Eines weiss er gewiss: Mit nach Hause nimmt er wertvolle Lebens- und Arbeitserfahrung. Er ist stolz auf den praxisorientierten Einblick in die Kunstszene New Yorks: «Dieses handwerkliche Praktikum ist unglaublich bereichernd und inspirierend. Ich würde es jederzeit wieder machen!» Vielleicht ist das schon bald der Fall. Sein New Yorker Arbeitgeber hat Interesse, ihn länger zu verpflichten. «We will see!», sagt Basile Specker und rollt mit dem Skateboard den Broadway hinunter.

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