17.07.2014, Tages-Anzeiger

Zum Fressen schön

Mitte der 90-Jahre lag Montreal am Boden. Heute ist die kanadische Millionenmetroplole UNESCO-Designstadt. Eine Auszeichnung, die dem Stil und der Kreativität der französischsprachigen Stadt Rechnung trägt. Und das kulinarische Angebot ist himmlisch.

Von Stephanie Rebonati, Montreal
Foto: Jean-Daniel Sudres

Terry stochert in einem Dragon Bowl. Einer grossen Schale mit Randen, Sprossen, frittiertem Tofu und Sesamdressing. Anne-Lore, seine Freundin, hat ihr luftiges Fladenbrot mit Sauerrahm, Minze und Mangochutney längst aufgegessen. Sie hängt an einem Strohhalm. Der tiefgrüne Saft ist fast ausgetrunken. Es ist früh am Nachmittag. In Montreal scheint die Sonne. Terry legt die Jeansjacke ab. Darunter trägt er ein weisses T-Shirt, das seine lückenlos tätowierten Unterarme offenbart. Im markanten Gesicht ein Paar blaue Augen, Vollbart, immer ein Grinsen. Auch Anne-Lore ist jung, schön und hip. Sie arbeitet bei einem Verlag, sonntags in einer Bäckerei, und donnerstags probt sie mit ihrer Band. Terry sagt: «Wir Montrealer sind nicht wie die New Yorker. Genauso cool, aber wir sind auf dem Boden geblieben.»
 
Terry und Anne-Lore sitzen im veganen Restaurant Aux Vivres im Stadtteil Le Plateau-Mont-Royal. Es ist ein unaufgeregtes Lokal. Eines mit simplen, hellen Holztischen, einem überschaubaren, aber beeindruckenden Angebot. Das junge Paar lebt zwar nicht vegan, doch es mag die kulinarische Abwechslung.
 
Jung und echt
 
Und Abwechslung hat Montreal reichlich zu bieten. Vor allem in diesem Quartier, dem «Plateau», und im benachbarten Mile End, einem Viertel mit suburbanem Charakter, Backsteinhäusern, über die Efeu kriecht, jungen Menschen auf Skateboards, Familien auf Fahrrädern – überall Gelassenheit. Diese Quartiere sind die Hotspots der kreativen Szene Montreals. Sie erinnern an Brooklyn in New York. Aber es ist entspannter: Hier eilt niemand einem Ruf nach. Die Coolness dieser kanadischen Metropole ist noch jung, und echt.
 
«Montreal, die Ex-Schlampe, ist aus ihrem wirtschaftlichen Sumpf gestiegen», schrieb die kanadische Schriftstellerin Monique Proulx vor genau zehn Jahren in der «Neuen Zürcher Zeitung». Mitte der 90er-Jahre lag Montreal nach 20 Jahren politischer Unruhen und gescheiterter Separationsversuche der Provinz Québec am Boden. Die Gross­finanz war nach Toronto geflüchtet, die Bewohner in die Vororte.
 
Dann schrieb das Montrealer Kommissariat für Design einen Wettbewerb aus. Ladeninhaber und Gastronomen, die ihre Lokale originell gestalteten, konnten einen Publikumspreis gewinnen, Medienecho und Zulauf inklusive. Der Concours wirkte, die «Ex-Schlampe» wurde aufgewertet und 2007 gar zur Unesco-Designstadt gekürt. Etwa zur selben Zeit wurde Montreal – wie einst Glasgow und Detroit – von internationalen Musikmagazinen zum «Zentrum einer neuen Pop-Epoche» erklärt. Das Festival Pop Montreal brachte etwa Arcade Fire und Feist raus, Bands, die heute die Welt besingen. Zum Parcours gehört unbedingt auch die Casa del Popolo. Tagsüber ein vegetarisches Café, nachts Zentrum der Avantgarde-Musikszene.
 
Terry will los. Anne-Lore bestellt noch ein Cookie to go, ein Biskuit mit Haferflocken, Ahornsirup und Rosinen. Während Terry sich aufs Velo schwingt, ruft er: «Geh unbedingt zu Patati Patata. Da sind wir stolz drauf!» Patati Patata ist das kleinste Restaurant Montreals. Es liegt am Boulevard Saint-Laurent, nur drei Häuserblocks entfernt von seinem veganen Nachbarn Aux Vivres. Die Fassade ist ein gespraytes Feuerwerk aus Gelb, Rot und Orange. Es hat für gerade dreizehn Leute Platz – und für zwei Jungs, die schwitzend am Grill stehen. Sie machen Poutine, die inoffizielle kanadische Spezialität. Pommes frites mit geriebenem Käse, übergossen mit Bratensauce, optisch schier unerträglich, geschmacklich deftig und fein. Wer sich durch 25 verschiedene Arten von Poutine essen will, liegt bei La Banquise richtig – einem 24-Stunden-Betrieb seit 1968. La Elvis etwa: Poutine mit gehacktem Rindfleisch, Peperoni und Champi­gnons.
 
Ähnlich üppig ist das Special, ein Sandwich, das seit 1932 bei Wilensky’s Light Lunch im ehemaligen Migrantenviertel Mile End zubereitet wird. Mortadella- und Salamischeiben werden grilliert und mit einer Unmenge Senf in einem Wiener Kaisersemmel eingeklemmt und dann auf dem Grill flach gedrückt, bis es dampft. Verewigt wurde dieses jüdische Deli vom kanadischen Kult­autor Mordecai Richler in der 1959 erschienenen Tragikomödie «The Appren­ticeship of Duddy Kravitz». Fünf Jahre später wurde das Buch verfilmt – dem Plot getreu an der Ecke Fairmount Avenue/Rue Clark bei Wilensky’s Light Lunch. Auch bei Schwartz’s stehen die Leute zumeist Schlange, egal um welche Uhrzeit, egal bei welchem Wetter. Sie alle wollen das Roggenbrotsandwich mit der sechs Zentimeter dicken Schicht aus geräuchertem Rinderbraten und gelbem Senf.
 
Leicht statt deftig
 
Doch in Montreal kann man auch anders, nämlich leicht, saisonal und vegetarisch essen. Im Café Le Cagibi etwa. Das Ecklokal ist lichtdurchflutet, an der Wand ein grosses Regal mit Pflanzen, Brettspielen, Lektüre. Hier verweilen junge Menschen, sie arbeiten an Laptops, lesen in Magazinen, machen Skizzen. Am Wochenende wird das WLAN ausgeschaltet, damit im Le Cagibi nur ­eines getan wird: ausgiebig gebruncht. Granola Maison, Tofu Scramble, Croque Chèvre, Salade Jardin. Die Zutaten stammen aus der Region, jedes Gericht ist eine Empfehlung wert. Hier finden auch Konzerte, Slam-Poetry-Darbietungen, Ausstellungen und Filmabende statt.
 
In derselben Gegend, fein zum Nachtessen, ist Mi Kyum Kims Restaurant Omma. Die Koreanerin kocht, wie es ihre Mutter ihr beigebracht hat, daher der Name: Omma bedeutet Mama auf Koreanisch. Die mundgerechten Man­doos, hausgemachte Dumplings mit gedämpftem Kohl und Tofu, machen glücklich und satt. Der Grüntee-Cheese­cake, ein Gedicht.
 
Auch Shopping macht hier happy. Anders als in New York finden Vintage- und Secondhandliebhaber in Montreal noch erschwingliche, gut erhaltene Preziosen aus früheren Zeiten. Die Friperie Local 23 und The Annex sind kuratierte Fundgruben: Eine himmelblaue, robuste Jeansjacke aus den späten 70ern kostet 25 Dollar, ein für die 60er-Jahre typisch bunt bemustertes Wickelkleid 18 Dollar. Auch Lederstiefel, handbestickte Umhängetaschen und 80er-Clip-Ohrringe gibts zu vernünftigen Preisen.
 
Eine Querstrasse weiter zwei bedeutende Montrealer Institutionen: Phonopolis setzt auf Vinyl, kanadische Bands und auf alles, was nicht Mainstream ist. Direkt neben dem Plattenladen befindet sich die Librairie Drawn & Quarterly, die Buchhandlung des gleichnamigen Comicverlags.
 
Hier ist Chris Oliveros am Werk – seit 25 Jahren. Im Jahr 1989 publizierte er als Einmannunternehmen acht Comicbände pro Jahr, heute zählt das Team ein Dutzend Leute und gibt jährlich rund 30 Bücher heraus. D&Q ist mitunter der meistgefeierte Verlag seiner Art in ganz Nordamerika. Hier wird das Gebundene sorgfältig assortiert, der Kunde gezielt befragt; lokale Nachwuchskünstler und Jungautoren werden gefördert. Soeben erschienen: «On Loving Women», Kurzgeschichten über lesbische Frauen, wunderbar keck illustriert und pointiert erzählt von der Québecer Autorin Diane Obomsawin.
 
Auch bei Au Papier Japonais wird das Papier hoch gehandelt. Diese Papeterie ist das Tor zu einem betörend farb- und formenfrohen Universum. Hier gibt es «Washi», handgeschöpftes, durchscheinendes Japanpapier – über 500 verschiedene Arten. Die Workshops sind in Montreal bekannt und beliebt: Buchbinden, Tapezieren, Origami.
 
Bixi und Yoga
 
Wer weder Essen noch Shoppen mag, kann sich sportlich betätigen. Seit 2009 gibt es Bixi, ein Fahrradverleihsystem, womit Montreal sogar New York voraus war – dort wurde Bixi erst letzten Sommer lanciert. An einer der über 400 Stationen hält man seine Kreditkarte über ein Display, erhält einen Zahlencode und tippt diesen bei einem freien Velo ein. Das Schloss springt auf, das Vehikel ist dein. Für eine Weile.
 
Wer länger auf dem Rad sein will, dem sei La Route Verte empfohlen: 4700 Kilometer kanadische Natur, von den malerischen Ufern des Saint-Laurent und Richelieu bis in die tiefen Wälder der Laurentinischen Berge. Es ist das bedeutendste Radfernwegnetz des nordamerikanischen Kontinents. Für die, die lieber auf der Matte sind, eignet sich der Passport To Prana. Man bezahlt 30 Dollar, erhält ein Abo, das einem Eintritt gewährt in 30 Yogastudios. Eigentlich für Montrealer gedacht, die ein Studio finden möchten – für Touristen genau deshalb ideal, um mal hier, mal dort den Sonnengruss zu üben.

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