18.12.2013, Transhelvetica

Die Seele Japans

Was ein Kimono mit seiner Trägerin macht, weiss und schätzt Kazu Huggler. Sie wuchs in Tokio und Zürich auf, studierte Kunstgeschichte und Ästhetik und vereint heute als Modedesignerin beide Kulturen. Die Tradition des Kimonos spielt dabei eine bedeutend Rolle, wenn nicht sogar die wichtigste. Ein Monolog.

Aufgezeichnet von Stephanie Rebonati
Fotos: Filipa Peixeiro 

Meine Grossmutter war eine Frau, die wusste, sich traditionell japanisch und auch westlich zu kleiden. Kimono oder Deuxpièces, beides trug sie würdevoll und authentisch. Es war sie, die mich modisch prägte, schon als kleines Kind in Tokio, wo ich die ersten elf Jahre meines Lebens gelebt habe. Meine Grossmutter hat mir ihre Kimonos vererbt, für mich die Seelen Japans.

Später als Studentin befasste ich mich kunsthistorisch und gesellschaftlich mit dem Thema, ich besuchte Abendkurse, um zu lernen, wie man einen Kimono anzieht. Es gibt keine Zipper und Knöpfe, jede Bewegung hat ihre Bedeutung. Ich schrieb in meiner Lizentiatsarbeit über den psychischen Einfluss, der ein Kimono auf seine Trägerin hat.

Während der gesamten Schreibzeit zog ich morgens einen Kimono meiner Grossmutter an, das Ritual half mir ungemein, diszipliniert bei der Sache zu sein. Es ist nicht der Kimono per se, welcher der Frau den schier unbeschreiblichen Halt gibt, es ist die aufbauende Konzentration, die das Ritual des Anziehens mit sich bringt. Es beginnt schon mit der Reinigung des Körpers und dem Auseinandernehmen des gefalteten Kimonos. Kimonos werden nicht hängend aufbewahrt, sondern nach bestimmten Regeln gefaltet.

Trägt eine Frau einen Kimono, wird sie langsamer, bedachter, sie rennt nicht durch die Gegend, grabscht nicht nach Dingen, sondern greift bewusst nach ihnen. Wegen des breiten Gurts, des Obi, geht und sitzt sie aufrecht und hat so hat eine würdevolle, elegante Haltung. Viele lachen über die kleinen Schritte, die Frauen machen, aber sie deuten sie falsch, es hat nichts mit Unterdrückung zu tun. Die Form des Kimonos schränkt zwar Bewegungen ein, engt aber nicht ein, eine Frau in einem Kimono kann alles machen, Autofahren, Arbeiten, Essen, Einkaufen, einfach begleitet von einer sogenannten slow pace, einer bewussten Gangart.

Der Kimono macht eine Frau nicht zu einer anderen Person, vielmehr verhilft er ihr, ganz nahe bei sich zu sein, sich auf das Ursprüngliche, das Innere und das Essentielle zu fokussieren. Zieht eine Frau einen Kimono an, muss sie ihren Körper gut kennen. Wie viel Raum braucht sie zum Atmen, zum Sprechen und Essen?

Trägt man einen Kimono an einem Anlass, spielen zig gesellschaftliche Faktoren eine bedeutende Rolle. Bist du der wichtigste oder zweitwichtigste Gast an einem Anlass, bist du ledig oder verheiratet? Feiern die Menschen oder trauern sie? An einer Feier zeigen die Enden der Schnüre des Obi-jime-Gurts nach oben, an einer Beerdigung nach unten.

Die Jahreszeiten sind auch von grösster Bedeutung. Es gibt kein anderes Kleidungsstück, das die Jahreszeiten so sehr würdigt und respektiert. Ein Kimono mit Pfingstrosen muss du kurz vor ihrer Blütezeit tragen, nicht während und schon gar nicht danach. Es ist der Versuch des Menschen, der Natur etwas voran zu sein – etwas Unerreichbares.

Da die Form des Kimonos über die vielen Jahre immer dieselbe geblieben ist, wurde umso intensiver in Textildesign investiert, eine Kunst, mit der man sich ein Leben lang befassen kann. Glücksbringende Motive sind etwa Bambus, Pflaumen und Pinien.

Wenn man verheiratet ist und Kinder hat, sollte man keinen rosafarbigen Kimono tragen, auch keinen mit Schmetterlingen. Der Schmetterling ist flatterhaft und geht von einer Blume zur nächsten. Man muss stets darauf achten, dass man andere Frauen nicht kränkt. Das sind Nuancen und das steht nicht alles in Büchern, vieles wird in Japan mündlich vermittelt. Das haben früher die Grossmütter gemacht und so Kunst- und Kulturvermittlung betrieben.

Das ist für mich jedes Mal das Schönste, wenn mir eine ältere Frau bei der Auswahl des Kimonos hilft. Beim Anziehen fragt sie mich, ob ich atmen kann, ob sich eine Falte gut anfühlt, sorgfältig knüpft sie die Schnüre, macht die Masche am Rücken. Durch dieses intime Ritual wirst du gesegnet, du fühlst dich souverän. Zum Kimono trägt man keinen Schmuck. Ringe, Armreifen und Ohrringe kommen vom Westen, Japanerinnen tragen klassischerweise nichts an der Haut und sie binden ihr Haar zu einem Chignon, einem Knoten im Nacken. So schützt man den Stoff.

Eine Frau in einem Kimono trägt nicht nur ein gewickeltes Kleidungsstück, sondern ein bedeutendes Stück Geschichte. Sie trägt die Philosophie der Ästhetik einer Kultur. Ich habe noch nie eine Schweizer Tracht getragen, aber ich würde gerne wissen, wie sie sich anfühlt – würdevoll oder theatralisch, engt sie ein? So erfährt man viel über eine Kultur.

Mein heutiges Verständnis als Modedesignerin ist stark geprägt von der Philosophie des Kimonos. Klar ist es wichtig, dass ein Kleid optisch überzeugt, dass man für Farbe und Form Komplimente kriegt, aber viel wichtiger ist das Gefühl, das ein Kleid einer Frau verleiht. Einen Kimono kann man mindestens drei Generationen weiter vererben. Der Kimono passt sich dem weiblichen Körper an, die Natur der Frau wird respektiert, weil es Raum hat für eine Schwangerschaft, für ein paar Kilo weniger oder mehr.

Auch die Herstellung ist nachhaltig. Ein Kimono wird aus einer Stoffrolle gemacht, die etwa fünfunddreissig Zentimeter breit und fünfzehn Meter lang ist. Die Streifen werden von Hand aneinandergenäht, kurvig in den Stoff hinein geschnitten wird nur ein einziges Mal und zwar beim Nacken, dem erotischsten Körperteil der Frau. Der Abstand zwischen Nacken und Kimono sollte eine Faust gross sein. Lässt eine Frau tiefer blicken, ist ihre Message klar.

Hatte ein Kimono früher Flecken, nahm man die Bahnen auseinander und machte ein Jäckchen für ein Baby, Kissen und Stofftaschen und wenn gar nichts mehr zu retten war, wurde der Stoff zu Windeln verarbeitet. In der westlichen Schneiderei, der Couture, wird in den Stoff hinein geschnitten, da kann man nicht wie beim Kimono Stoffbahnen auseinandernehmen und sie zu anderen Objekten umfunktionieren.

Auf meinen regelmässigen Reisen nach Japan suche ich antike Kimonos und entwerfe daraus Etuikleider, Wickeltops und Schals, alles Einzelstücke. Das ist meine Herausforderung als Modedesignerin. Wie entwerfe ich für eine Kundin ein Kleid, das sie zehn Jahre lang tragen und es dann ihrer Tochter weitergeben kann?

Im vergangenen Sommer war ich in einer Gegend, die lange bekannt war für seine Kimono-Webereien, es gab hunderte Produzenten, sie waren wohlhabend, mussten keine Werbung betreiben, weil die Bestellungen einfach reinkamen. Heute sind es noch zwanzig Webereien, die um Aufträge kämpfen. Ihre Kundinnen sind jetzt im Altersheim und die Töchter geben ihr Geld nicht für Kimonos aus.

Ich finde nicht, dass alles immer beim Alten bleiben muss. Wenn ein Handwerk ausstirbt, hat das seinen Grund. Bevor es aber so weit ist, sollten Ideen und Konzepte entwickelt werden, um das bedrohte Gut in die Moderne zu transportieren. Antike Kimonos in westliche Formen zu übersetzen, ist einer meiner Beiträge in diesem dringlichen Diskurs.

Ich habe einen Mann kennengelernt, der bei der japanischen Regierung arbeitet und sich für den Erhalt der Kimonotradition einsetzt. Zusammen mit den Webereien versucht er, Kimonostoffe für moderne Objekte zu verwenden, das ist ein Dialog. Auch ist mir aufgefallen, dass Japanerinnen Kimonos in Vintage-Shops kaufen und sie in ihren Alltag integrieren, nicht unbedingt traditionell getragen, aber eine moderne Interpretation dessen, das ist ein schöner Anblick. Viele Japanerinnen wollen nämlich Kimonos tragen, aber sie wissen nicht wie.

Wie vieles in Japan, wird auch der Kimono erst zu einem Objekt, wenn er getragen wird. Erst so kriegt er eine Silhouette. Das ist dasselbe mit Origami, den Papieren, die präzis zu aparten Tieren und Formen gefaltet werden, oder Furoshiki, ein quadratisches Tuch, das traditionellerweise als Verpackung oder Tragebeutel verwendet wurde. Auch hier erkenne ich ein Revival, die Leute in Japan tragen es wieder vermehrt mit sich und setzen es ein, ein ökologisches Statement.

Infobox
Kazu Huggler ist eine schweizerisch-japanische Modedesignerin, die sich seit dem Tsunami 2011 stark für den Wiederaufbau von Schulen und traditionellem Handwerk einsetzt. Unter der von ihr gegründeten Three Cranes Association führt sie in Japan Workshops, spendet zusammen mit Bernina Schweiz Nähmaschinen und baut im Namen der Kulturvermittlung nachhaltige Zusammenarbeiten mit Kreativkollektiven auf.

In der Boutique KAZU am Zürcher Hottingerplatz sind Prêt-à-porter- und Couture-Kollektionen sowie Accessoires erhältlich. Kazu Huggler ist die Tochter eines Schweizers und einer Japanerin, bis sie elf Jahre alt war, lebte die Familie in Tokio, nach dem Gymnasium in Zürich studierte sie an der Keio Universität in Tokio japanische Kunstgeschichte und Ästhetik und am Central Saint Martins College in London Modedesign. Kazu Huggler lebt mit ihrem Mann und den zwei Söhnen in Zürich.

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