15.08.2014, Transhelvetica

Rauf, zügig, dann fliegen

Mit einem der weltbesten Gleitschirmpiloten von der Balmhornhütte runter.

Von Stephanie Rebonati
Fotos: Thomas Senf

«Du musst einfach rennen. Grosse Schritte machen. Das Loch runter. Links am Busch vorbei. Irgendwann zieht es dich hoch. Okay?» Chrigel Maurer grinst. Er weiss, wovon er spricht. Er hat es schon Hunderte Male getan. Einen Berg besteigen. Den Schirm ausbreiten. Die Leinen prüfen. Losrennen und abheben. Die Leute nennen ihn den Adler von Adelboden. Ein Mann mit Arbeiterhänden. Gross und rau. Sanfte, muntere Augen. Waden wie kleine Boccia-Kugeln. Chrigel Maurer hat sie alle gewonnen, die Schweizer- und Europameisterschaften, die World Cups und die Red Bull X-Alps. Fliegen mit dem Gleitschirm. Er nennt es eine Sucht.

Es ist Dienstagmorgen. Im Gasterntal bei Kandersteg im Berner Oberland ist es kühl. Der Himmel ist leicht verhangen, die Vögel zwitschern. Wasserfälle rauschen durch das Kalkgebirge, eisblaue Bäche und Flüsse schlängeln sich durch das grüne Tal. Gelbe Blumen im hohen Gras, rosa, violette, blaue. Kühe weiden, starren lieb, ihre Glocken bimmeln im Durcheinander. Stolze Tannen, dicht beieinander, als ob sie flüstern würdeb. Kleine Wanderwege, Holzbrücken, sanfte Flussbeete, Geröll. In der Ferne ein mächtiges Chalet, das Holz dunkel durch die Jahre. Weissrote Gardinen, tiefrote Geranien. Journalisten geht das Wort Idylle oft viel zu schnell von der Hand. Wie jetzt, weil es so sehr zutrifft, es ist idyllisch in diesem Tal. Lauschig, noch so ein Unwort. Fernab von allem, das stört.

Chrigel Maurer stellt seinen verbeulten Kombi am Waldrand ab. Drei ältere Frauen mit kurzen Haaren und Nordic-Walking-Stöcken schauen mürrisch. Sie tragen alle die gleiche Hose. Bestimmt atmungsaktiv. Vom Sportgeschäft, eine Investition. Man gönnt sich ja sonst nichts, scheinen diese grauen Trekkinghosen zu sagen. Die Gummizüge, die schneiden den Damen in die weichen Unterschenkel. Chrigel Maurer grüsst. Und grinst. Er ist schon unterwegs. Ein grosser Rucksack. 23 Kilo Material für den Tandemflug. Fliegt er in der Freizeit alleine, wiegt der Gleitschirm gerademal drei Kilo. Weil er dann keinen Helm mitträgt, keinen Rettungsschirm, keine warme Jacke. Nur das Nylontuch, die Leinen, ein wenig Gurtzeugs.

Rauf, zügig, dann fliegen. Chrigel Maurer wandert nicht. Er eilt. Der Aufstieg, das ist für ihn bloss Mittel zum Zweck. Ein Training, wenn es denn sein muss. Für die Waden. Die kleinen Boccia-Kugeln. Zügig, weil er fliegen will. Immer fliegen. Seit 16 Jahren. Genau die Hälfte seines Lebens. Heute aber hat der Aufstieg einen weiteren Grund. Weil die Red Bull X-Alps dieses Jahr nicht stattfinden – dieser Wettkampf gilt als das härteste Adventure-Race weltweit – nahm sich Chrigel Maurer eine andere Herausforderung vor. Bis Ende Jahr möchte er jede Hütte des Schweizer Alpen-Clubs besucht haben. Als Beweis ein Foto schiessen und dann: Wind und Wolken beobachten. Den Schirm ausbreiten. Die Leinen prüfen. Losrennen und abheben. Der Adler von Adelboden. Chrigel Maurer in der Luft.

Mit dem grossen Buckel auf dem Rücken ist Chrigel Maurer an diesem kühlen Junitag zur Hütte Nummer 50 unterwegs. Es ist die Balmhornhütte. 1955,5 Meter über Meer. Der Gleitschirmpilot eilt den Hang hinauf. Rauf, rauf. Es sieht so leicht aus. So routiniert und nebensächlich. 23 Kilo auf dem Rücken. Selten trinkt er Wasser. Spricht kaum. Auf Pausen verzichtet er. Dabei wäre es angebracht, ja ausgesprochen höflich, die Vielfalt dieses Wanderwegs mit Staunen zu honorieren.

Aber der Mann, der will auf den Berg. Sie wissen schon. Der Weg aber, der ist einige Zeilen wert. Die Blumen! Die Enziane, wie die sich versammeln. So hübsch. Adrett. Gold-Fingerkraut, gelb und fröhlich. Breitfächeriges Berg-Laserkraut, reine Unschuld. Traurige blaue Glockenblumen. Die Bergdistel. Flott am Kokettieren mit ihrem dunkelpinken Schopf.

Der Marsch durchs Unterholz ist sanft. Die Morgenluft ist weich, der Geruch friedlich. Hier eine kleine Brücke, dort ein zahmer Bach. Rasch zieht es an. Der Aufstieg durch die schmalen Wald- und Felspartien ist streng. Aber der Chrigel Maurer, der eilt. Weit voraus mit dem grossen Buckel. Treppen aus Wurzeln führen hinauf, eng an der Wand, dort ist es sicher. Dort baumeln auch Äxte, grosse Metallschrauben, viele Meter Draht und Pickel. Das Werkzeug der SAC-Sektion Altels.

Bald knirscht es unter den Füssen. Erodiertes Kalkgestein in Bewegung. Der Blick öffnet sich. Man traversiert eine graue Wüste. Gelegentlich eine Brücke aus zwei Holzscheiten, kein Geländer. Doch der Chrigel Maurer, der hüpft drüber. Pfeift fröhlich. Ein Bub der Berge. Ein Freund der Natur. Er liebt sie so sehr, sagt er, weil sie keinen Fahrplan hat, keine Strassenschilder. Die Natur. Er sagt: «Ruhe, Frieden, so.» Er nimmt einen Schluck Wasser. Sein Handy klingelt, zerreisst die Stille, stört die Idylle, doch ihn freut’s. «Früher Weihnachten!», jauchzt er. Sein Schirm ist angekommen. Für die Europameisterschaft, die am 3. August in Serbien stattfindet. Ein rotweisser Schirm, selbstver-ständlich. 33 Kilo bringt die High-End-Wettkampfausrüstung auf die Waage.

Nun sieht man sie. Die Balmhornhütte. Nach knapp einer Stunde, obwohl unten am Berg angegeben war, dass der Aufstieg 90 Minuten dauern würde. Der Chrigel Maurer mit den Boccia-Kugeln. Der eilte hinauf. Eine hübsche Hütte aus aufeinandergestapelten Steinen. Auf einem kleinen Hochplateau, umrandet von saftig grünen Wiesen, Bänken und Tischen aus massivem Stein, ein kleines Holzhaus, ein Lavabo aus Metall, eiskaltes Wasser. Rudimentär, malerisch. Rotweisse Läden, gemachte Betten, niemand da.

Chrigel Maurer macht ein Foto. Der Beweis, dass er Hütte Nummer 50 besucht hat. Abgehakt, erledigt. Jetzt, endlich, fliegen. Nur noch etwas essen. Einen Landjäger und ein Stück Brot. Wasser, Saft. Er beobachtet den Wind und die Wolken. Er betrachtet die Berge, den Himmel, die stolzen Tannen, die nette Balmhornhütte, er unterhält sich stumm, bereitet sich innerlich vor. Der Chrigel Maurer, der fliegt so gerne, weil er fasziniert ist ob der Verantwortung, die man hoch oben in der Luft trägt.

Aber die beginnt schon unten. Hier unten, wenn er seinen Snack einnimmt und die Verhältnisse einschätzt. Er spricht kaum. Grinst viel. Er reisst ein Büschel Gras aus und lässt ihn auf Hüfthöhe los. Sein Blick folgt den Halmen, sein Gesicht verzieht sich. Der Wind hat seine Richtung geändert. Er möchte anders durch die Landschaft ziehen. Mal hier, mal da. Aber der Chrigel Maurer, der will wissen, wohin der Wind eilt. Und zwar genau. Kann er losrennen und abheben? Er beisst ins Brot.

Letzten Sommer musste Chrigel Maurer das ganz genau tun, die Bedingungen einschätzen. Er tat es mit so einer Genauigkeit, dass er den schwierigsten Wettkampf der Welt gewann. Die Red Bull X-Alps. Er gewann sie in absoluter Rekordzeit und zum dritten Mal in Serie. Von Salzburg bis Monaco. Zu Fuss und mit dem Gleitschirm. 1 000 Kilometer Luftlinie. Chrigel Maurer kam nach sechs Tagen und 23 Stunden im Fürstentum an. 268 Kilometer ging er zu Fuss. Den Rest in der Luft. Von 9 Uhr abends bis 6 Uhr in der Früh galt Flugverbot. Ruhen war allerdings nur von 22.30 bis 5 Uhr verordnet. Jene, die in diesen Stunden gingen, joggten, eilten, wie der Chrigel Maurer das tat, die kamen früher oben an. Oben, wo man abheben kann zum Flug.

Chrigel Maurer. Der Vielflieger, der Süchtige. Als er neun Jahre alt war, durfte er mit seinem Vater mitfliegen. Mit in die Luft, wo man unter dem grossen Schirm gleiten kann. Während der Lehre zum Maurer, mit 16 Jahren, dem Mindestalter fürs Gleitschirmfliegen, fing er richtig an. Er gewann Wettkämpfe, zuerst regionale, nationale, dann internationale. Heute ist er hauptberuflich Gleitschirmpilot. Der beste der Welt. Er korrigiert: «Einer der besten der Welt.» Der Adler von Adelboden. Der Dominator der X-Alps, wie er nach seinem Sieg letztes Jahr im Schweizer Fernsehen genannt wurde. Er bildet aus, prüft Equipment, hält Vorträge, macht Tandemflüge, Personaltraining. Und er prüft die Wetterverhältnisse. Immer. Wie jetzt.

Es ist kalt hier oben. Die Balmhornhütte auf dem kleinen Hochplateau. Die grünen Wiesen, die adretten Blumen, die graue Nordwand des Balmhorns. 
Die Schirmkappe. Die Leinen. Das Gurtzeugs. Alles liegt vor dem Piloten. Er sagt: «Du musst einfach rennen. Grosse Schritte machen. Das Loch runter. Links am Busch vorbei. Irgendwann zieht es dich hoch. Okay?»

Er grinst. Er setzt den Helm auf, gurtet ein. Um die Oberschenkel wird es eng. Er zieht den Karabiner zu. «Ready?», fragt er. Und rennt los. Grosse Schritte. Das Loch runter. Links am Busch vorbei. Losrennen und abheben. Plötzlich zieht es dich hoch. Unerwartet. So nebensächlich leicht. Plötzlich, in der Luft! Die Enziane und Bergdisteln ganz klein, bald verschwunden. Die Balmhornhütte ruhig. Das Gefühl unbeschreiblich. Freiheit. Tränen. Beruhigung: «Mir kommen die Tränen heute noch manchmal», sagt der Pilot. Der Gipfelstürmer, der Junkie. Anfang Juni etwa. Da sei er als erster Gleitschirmpilot mit einem Passagier im Tandemflug übers Matterhorn geflogen. Übers Matterhorn! Ja, da wurde auch er, der Routinier, emotional.

Unten im Gasterntal. Als die drei Frauen mit den atmungsaktiven Hosen mürrisch schauten. Da hat der Chrigel Maurer gesagt, dass es schwer zu beschreiben sei. Das Fliegen. Das Gleiten unterm Nylontuch. Das Schwerelossein. Das müsse man schon selbst mal erlebt haben. Jetzt. Hier oben. Die Kühe, klein wie Meerschweinchen. Das Chalet ein Puppenhaus. Jetzt machen die spärlichen Sätze des Chrigel Maurer Sinn. Der Gipfelstürmer, der mit den Boccia-Kugeln. Der in der Luft. Die 50. SAC-Hütte hat er heute besucht. Abgehakt. Jetzt sind es nur noch 102. Bis Ende Jahr. Im Schnitt alle 44 Stunden eine Hütte des Schweizer Alpen-Clubs. Eilen. Rauf, zügig, dann fliegen. Wenn er es denn rechtzeitig schaffen will.

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