13.03.2015, Transhelvetica

Schwein gehabt

Obelix hatte es gut. Er ging in den Wald und kam mit mindestens einer Sau unter dem Arm zurück. Auch der Zürcher Michael Vogel kennt sich mit den schlauen Tieren aus – und weiss, die Wildschwein-Jagd ist ein Handwerk, das gelernt und geübt sein will. Genauso wie das Kochen des Wildschwein-Ragùs mit selbstgemachten Ravioli, das Anna Pearson ihrer Tafelrunde servierte.

Von Stephanie Rebonati
Fotos: Filipa Peixeiro

Am Ende dieser Geschichte stehen zwei Dutzend Menschen in einem Weinkeller eines denkmalgeschützten Hauses aus dem 18. Jahrhundert und trinken Sauvignon Blanc. Es werden Buchweizen-Blinis mit Felchenrogen aus dem Neuenburgersee und Kresse aus dem hauseigenen Kräutergarten gereicht. Ein Jäger hält eine Ansprache. Er erzählt von der Wildschweinjagd im Zürcher Weinland. Er sagt: «Die Säue sind sackschlau. Um eines zu erlegen, rechnet man mit sechzig Stunden Aufwand.» Im oberen Stockwerk bereitet eine Köchin handgeformte Ravioli mit Petersilienwurzelfüllung zu. Sie sagt: «Als ich im Restaurant meiner Tante im Tessin arbeitete, sagte sie mir immer, dass ich nicht so makellose Ravioli formen solle, schliesslich stehe auf der Karte, dass sie hausgemacht seien. Nun gebe ich mir Mühe, dass sie nicht zu perfekt aussehen.»

Der Jäger und die Köchin. Michael Vogel und Anna Pearson, beide Anfang dreissig, beide Vertreter der Terroir-Philosophie. Sie setzen sich für saisonale, regionale und frische Lebensmittel ein. Er jagt, sie bewirtet. Er streift durch den Wald und über Wiesen, liest Fährten, lauscht, harrt stundenlang im Dunkeln auf einem Hochsitz aus, fährt in der Morgendämmerung mit Berufsfischern auf den See und holt die Netze ein. Sie bewahrt Lebensmittelhandwerk, indem sie hausgemachte Würste, Teigwaren und Ziegenfrischkäse auftischt, eigenhändig Fisch räuchert, Wollschweine zerlegt, Produkte von Kleinproduzenten aus dem ganzen Land verarbeitet, zu grossen Tafelrunden lädt und jüngst ein Kochbuch darüber veröffentlicht.

Zwei junge Menschen mit demselben Ziel: ein Bewusstsein für und schliesslich eine Nachfrage nach guten Produkten generieren. Gut heisst nachhaltig. Und nachhaltig heisst kompromisslos. Die Köchin sagt: «Ich erhebe keinen Anspruch darauf, alles ‚richtig’ zu machen, aber ich gebe mein Bestes, um verantwortungsbewusst Lebensmittel einzukaufen. Wenn möglich, verwende ich Bio-Qualität, wichtiger ist mir jedoch die regionale Herkunft.» Gemüse und Kräuter bezieht Anna Pearson vorwiegend aus dem eigenen Anbau, früher war es ein Schrebergarten neben dem Schlachthof und Fussballstadion in der Stadt Zürich, heute ist es ein herrschaftlicher Fleck mit Blick auf die Glarner Alpen und den Zürichsee.

Der Jäger bietet in seinem Spezialitätengeschäft «eatgreen» ausschliesslich das an, was heimische Seen, Wälder und Wiesen hergeben. Er sagt: «Das Angebot schwankt übers Jahr wie die Natur das halt vorgibt. Meistens verbringt man lange Stunden draussen, geniesst die Welt abseits von Mensch und Verkehr und schiesst nicht.» Zusammen mit seiner Lebenspartnerin vertreibt er die frischen Fisch- und Fleischerzeugnisse, die in kleinen bis grossen Mengen oder auch im Abo erhältlich sind.

Ein Sauschaden

An einem späten Freitagnachmittag Ende November sind die Köchin und der Jäger im Jagdrevier Thalheim im Zürcher Weinland unterwegs. Sie blicken in die Ferne, wo hohe Fichten am Waldrand stehen. Sie schauen gen Himmel, wo ein Milan kreist. Die Herbstfarben sind ein Spektakel. Tiefgrüne Nadeln, goldige Blätter, verschleiertes Graublau darüber.

Der Jäger, der hauptberuflich Wildtierbiologe ist, erzählt, dass das Geweih eines Rehbocks nichts über dessen genetische Konstitution aussagt, sondern vielmehr über seinen Ernährungszustand. Er erklärt, weshalb Feldhasen schwanger werden können, wenn sie bereits trächtig sind – ein geteilter Eileiter mache das möglich. Auf einer Wiese macht er plötzlich Halt. Michael Vogel beugt sich über frisch umgewühlte Erde. Anna Pearson tut es ihm gleich. Er sagt: «Ein Sauschaden». Wildschweine haben hier nach proteinhaltiger Nahrung gesucht, nach Insektenlarven und Würmern, sie können bis einen halben Meter tief graben. Er deutet auf einen Hufabdruck: «Das war eine kleinere Sau, höchstens dreissig Kilo schwer.» Der Jäger richtet sich auf, prüft die Richtung des Windes, entscheidet, welchen Hochsitz er für die Nacht beziehen wird. Wildschweine haben ein ausgeprägtes Riechvermögen, kommt man mit dem Wind, zieht die Rotte mit ihren Bachen, Frischlingen und Überläufern geschwind davon.

Es wird kühl, immer finsterer, die Geräusche des Waldes entzücken. Eine Waldkauz irgendwo, ein Knacken im Geäst. Der Jäger starrt konzentriert in die Dunkelheit, das Gewehr bereit, das Fernglas im Griff. Neben ihm die Köchin, warm eingepackt, gespannt. Die beiden flüstern, rühren sich kaum im Hochsitz drei Meter über Boden. Anna Pearson sagt: «Die Jagd hat mir eine neue Welt aufgetan. Wann sitzt man schon fünf Stunden am selben Ort und gibt sich der Natur hin?» In dieser Nacht Ende November schiesst Michael Vogel nicht. Er hört Säue, die hinter ihm im Wald vorbeiziehen, er beobachtet einen Steinmarder, der unter ihm eine Maus durchs Laub jagt, er späht übers Feld und wartet auf eine Wildsau, die aus dem Wald tritt. Er sagt: «Manchmal nutze ich diese Zeit, um über Dinge nachzudenken, manchmal staune ich aber auch nur über die Schönheit der Natur.»

Ein paar Tage später steht Anna Pearson in der Küche eines denkmalgeschützten Hauses aus dem 18. Jahrhundert. Sechzig handgeformte Ravioli mit Petersilienwurzelfüllung hat sie soeben zubereitet. Sanft führt sie eine Kelle in einen grossen Topf, in dem dicke, braune Klosse sitzen. Es ist Wildschwein-Ragù mit Wacholderbeeren, Thymian und Rosmarin. Im Weinkeller stossen zwei Dutzend Menschen mit Sauvignon Blanc an. Es werden leuchtend orange Felchenrogen auf Blinis mit Kresse gereicht, hoch aromatische, feuchte Reh-Mostbröckli munden. Michael Vogel hält eine Ansprache. Er heisst die Gäste herzlich zur grossen Tafelrunde willkommen. Er sagt: «Lassen Sie sich von Produkten aus heimischer Natur verzaubern. En guete!»

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