10.11.2018, Das Magazin

Ein Tag im Leben von Lucas Zwirner

Lucas Zwirner (27), Verlagsleiter von David Zwirner Books in New York, hat ein deutsches Lieblingsbuch: «Momo» von Michael Ende.

Protokoll: Stephanie Rebonati
Bild: Privat

Als Achtjähriger war ich enorm angetan von «Momo», der Kindergeschichte von Michael Ende, die 1973 erstmals veröffentlicht wurde. Mein Vater, der Galerist David Zwirner und ursprünglich aus Köln, las mir das Buch damals auf Deutsch vor. Ich wuchs in New York auf, daheim pflegten wir aber den Gebrauch beider Sprachen, was ich heute zutiefst schätze. Gerade gestern war mein Grossvater aus Berlin zu Besuch, und wir haben uns den ganzen Abend unterhalten.

Als Zehnjähriger las ich «Momo» dann selber. Mich faszinierte die philosophische Erzählung, in der es um das Konzept von Zeit geht. Wie sie uns beeinflusst, wie wir uns mit und durch sie bewegen. Ich mochte das Waisenmädchen Momo und die Antagonisten, die grauen Herren, die aus getrockneten Stundenblumen Zigarren rollten und so die Zeit anderer verrauchten. Ein wahnsinnig starkes Bild, nicht? Weil die Blumen eingesetzt werden, um Zeit zu thematisieren, die gestohlen und verprasst wird. Mich interessierten Bücher mit einer philosophischen Pointe schon immer. Deshalb war ich als Kind auch «Sofies Welt» von Jostein Gaarder verfallen, eine Einführung in die Geschichte der Philosophie.

Als ich achtzehn war, passierte eines Tages etwas, das wohl massgeblich dazu beigetragen hat, dass ich heute im Verlagswesen tätig bin. Damals war ich im ersten Jahr an der Yale-Universität, wo ich Philosophie, deutsche und französische Literatur studierte. Ich war kurz bei meinen Eltern zu Besuch, wo ich in meinem Kinderzimmer plötzlich «Momo» erblickte, das in gelbes Leinen gebundene Buch mit den dicken Seiten, das mir als Kind so lieb war. Die nächsten zwei Tage verbrachte ich damit, «Momo» erneut zu lesen. Es packte mich wieder. Dieses Buch, so dachte ich, müsste doch gerade jetzt, in einer Zeit, in der den Mächtigen und dem Finanzsektor misstraut wird, eine bedeutende Kindergeschichte sein – auch in Amerika! So beschloss ich, das Buch ins Englische zu übersetzen. Es existieren zwar zwei Übersetzungen, aber die sind schon viele Jahre alt. Ich war bestrebt, es besser zu machen.

Die Übersetzung dauerte sechzig Tage und nahm den ganzen Sommer 2010 in Anspruch. dreissig Tage übersetzte, dreissig Tage redigierte ich. 2013, genau vierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, wurde meine Übersetzung dann tatsächlich vom Verlag McSweene’s publiziert. Das Buch ist heute vergriffen. Nach «Momo» wagte ich mich an weitere deutsche Texte, etwa an Michael Endes «Der Spiegel im Spiegel» oder an Elias Canettis «Der Beruf des Dichters».

In jener Zeit verfasste ich auch Kunstkritiken. Die Textarbeit war ein Wendepunkt. Sie brachte den Gebrauch von Werkzeugen mit sich, die mir nicht nur extrem gefielen, sondern auch lagen. Ich wollte mir damals dringend eine berufliche Identität schaffen, die Gültigkeit hat ausserhalb der Welt meines Vaters, der 1993 in SoHo die David Zwirner Galerie ins Leben gerufen hatte.

Heute arbeite ich im Familienunternehmen, obwohl ich nach Yale zunächst in Harlem an einer Primarschule unterrichtete und danach eigentlich einen Master in Philosophie in Oxford machen wollte, was ich in letzter Minute abgeblasen habe.

2014 wurde David Zwirner Books gegründet, dessen Verlagsleiter ich seit zwei Jahren bin. Wir publizieren Kataloge und Monografien, aber auch literarische Werke, weil mir daran liegt, den Begegnungspunkten von Literatur und visueller Kunst eine Plattform zu geben. Diesen Monat erscheint «What it Means to Write About Art», eine Sammlung von Gesprächen mit dreissig grossen Kunstkritikern, darunter Hilton Als, Siri Hustvedt und Peter Schjeldahl. Auf meinem Pult stapeln sich die Manuskripte. Schau, dieses etwa von Betsy Baker. Sie war 35 Jahre lang Chefredaktorin von «Art in America». Ich bin gespannt, was daraus Grossartiges entstehen wird.

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