20.04.2014, Sonntagszeitung

Schrittmacher im Tanzmuffel-Land

Steps bewegt die Schweiz. Ab Donnerstag gibt das Festival der Nation wieder einen Energieschub.

Von Stephanie Rebonati
Foto: Judith Schlosser

Tanz ist Präsenz. Körper vibrieren. Blicke treffen. Für einen Moment sind die Gesetze der Physik aufgehoben. Es ist Magie pur. In vier Tagen eröffnet die 14. Ausgabe des Tanzfestivals Steps mit einer Aufführung, die einen starken Augenblick im Titel trägt: «Kairos» bedeutet auf Altgriechisch der entscheidende Moment. Erstmals feiert das Festival des zeitgenössischen Tanzes im Zürcher Opernhaus Premiere – mit einer Choreografie des britischen Stars Wayne McGregor.

Zwölf internationale Compagnien touren danach während dreier Wochen durch die Schweiz und tanzen in 35 Städten auf 39 Bühnen. Es ist eine landesweite Tanz­offensive, initiier t vom Mig­ros-Kulturprozent. Seit der Gründung 1988 beweist Steps alle zwei ­Jahre, dass sich der professionelle Büh­nen­tanz beim Schweizer Publikum wachsender Beliebtheit erfreut. 1998 waren es 24 500 Besucher, 2012 bereits 31 500.

Mit der Eröffnung im Opernhaus sei Steps im Olymp an­gekommen, sagt Hedy Graber, Leiterin Direktion Kultur und ­Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund. «Die freie Tanszene und das klassische Ballett treffen aufeinander – eine Begegnung auf Augenhöhe», sagt sie.

Im Ausland hat der Tanz einen viel höheren Stellenwert

Das sind starke Worte für eine schwache Szene. Der professionelle Bühnentanz wird abseits des Tanzfestivals Steps in der Schweiz wenig wahrgenommen. Com­pagnien der freien Szene vermissen tanzkonforme Bühnen und langfristige Subventionierungsprogramme. Ensembles an den ­Stadt­theatern wollen mehr Mit­spracherecht am eigenen Haus. Zudem ist die Branche zerstritten: Zwischen der institutionellen und der freien, zwischen der klassischen und der zeitgenössischen Szene gibt es Grabenkämpfe.

Erst seit 2012 verfügt das Bundesamt für Kultur über rund 800 000 Franken, um tänzerische Leistungen auszuzeichnen. Eine Lobby fehlt weitgehend, ein mediales Echo ebenfalls – Bühnen­tanz wird in Feuilletons, verg­lichen mit Film, Literatur und Kunst, wenig besprochen.

Wenig werden auch die Tanzvorstellungen an den fünf Stadt­theatern in der Deutschschweiz besucht. Die Anzahl Besucher, die während der Spielzeit 2012/2013 im Opernhaus Zürich und im Theater Basel Ballett schauten, beträgt im Vergleich zur Gesamt­besucherzahl gerade mal knapp ein Fünftel. An den Theatern in Bern, Luzern und St. Gallen machte der Tanz zwischen einem Achtel und einem Zwölftel aus. Der Bühnentanz ist ein Stiefkind.

Das verwundert. Denn die Menschen tanzen. Früher am ­königlichen Hof, heute in Clubs. Laut dem Dachverband Danse ­Suisse tanzen in der Schweiz über 40 000 Menschen in rund 400 Studios. Das vom Tanznetzwerk Reso überregional organisierte Tanzfest lockt seit bald einem Jahrzehnt jährlich über 60 000 Menschen in Workshops, in denen Profis unterrichten, und auf Strassen und Bühnen, wo gemeinsam getanzt wird. Tanzen ist Gemeinschaftssache. Das beweisen der dichte Partykalender und die auf öffentlichem Grund spontan stattfindenden Flashmobs – Laien-Darbietungen, die über soziale Me­dien organisiert werden.

Dass der Tanz eine grössere Rolle spielen könnte, zeigt ein Blick ins Ausland. In Grossbritannien werden Tanzprojekte seit 1946 staatlich subventioniert. Seit 1988 ist der Tanz fester Bestandteil des Lehrplans. In der Primarstufe bis zur Universität wird getanzt – als Turnunterricht, als ­Zusatzfach oder Studienschwerpunkt. Die nationale Kulturstiftung Art Council England vergibt jährlich 52 Millionen Pfund an 70 auserwählte Tanzcompagnien. 13 Prozent der britischen Bevölkerung geben an, regelmässig Tanzvorstellungen zu besuchen.

Deutschland lancierte 2005 ­einen nationalen «Tanzplan» zur Stärkung der schwachen Kunst­sparte. Während der Projektzeit von fünf Jahren flossen 21 Mil­lionen Euro in den Tanz, die fünf wichtigsten Tanzarchive des Landes schlossen sich zur Erhaltung des Kulturerbes zusammen, eine Konferenz zur Tanzausbildung wurde gegründet. 80 Prozent der damals eingeführten Initiativen werden bis heute weitergeführt. Auch in Frankreich und Belgien ist der Bühnentanz ein Nationalgut. In der Schweiz steckt diese Debatte noch in den Kinderschuhen – immerhin.

Der Professor lässt zu Vivaldi auch mal Techno laufen

Seit 2006 unterstützen Städte, Kantone und die Kulturstiftung Pro Helvetia gemeinsam über drei Jahre hinweg auserwählte Tanzcompagnien. Aktuell werden 13 Compagnien subventioniert. Seit 2011 gibt es eine eidgenössisch anerkannte Tanzausbildung, die mit Berufsmaturität absolviert werden kann. Ab kommendem September startet der Bachelor-­Studiengang in Contemporary Dance in Zürich und Lausanne. «Der Tanz installiert sich hierzulande langsam», sagt Felizitas Ammann, Leiterin der Tanzförderung bei Pro Helvetia.

Dank dem Tanzfestival Steps erhält diese Entwicklung alle zwei Jahre Aufwind. Eröffnet wird am Donnerstag im Opernhaus mit «Notations», einem Tanzabend des Ballettensembles. Choreografiert hat unter anderem der 42-jährige Brite Wayne ­McGregor, auch «The Brain» genannt – ein Ausnahmechoreograf, der Professor in Neurowissenschaften ist, in den Proben wie ein Tornado durch den Saal wirbelt und der als Abwechslung zu Vivaldi Techno laufen lässt.

Über sein Debüt im Zürcher Traditionshaus sagte er: «Mein Stück soll so aussehen, als ob es gerade auf der Bühne entstanden sei.» Eine Leichtigkeit, die zu erreichen nur wenigen gelingt. Die Spontaneität als höchste Weihe – auch das ist Tanz.

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