10.12.2014, Transhelvetica

He Tschonny, häsch en Tschwingom?

Es war ein Skandal. In den 1940er-Jahren brachten in Deutschland stationierte GIs amerikanischen Kaugummi in die Schweiz und sorgten für rote Köpfe. In der Presse war die Rede von einer anti-schweizerischen Rebellion. Einst verschrien, wird er heute tüchtig produziert: Der Schweizer Kaugummi ist der Exportschlager der Migros.

Von Stephanie Rebonati
Fotos: Filipa Peixeiro

Sie könnte einem Gemälde entsprungen sein. Diese junge Frau. Das Haarnetz, das weisse Mäntelchen und die klobigen Plastikschuhe verdecken ihre Anmut nicht. Im Gegenteil. Ihre tiefbraunen Augen folgen den Candida-Verpackungen, die gemächlich auf dem Laufband an ihr vorbeiziehen. Gelassen ruht ihr Körper in einem abgenutzten Bürostuhl. Das eine Bein überm andern, die zierlichen Handgelenke ruhig aber in Bereitschaft, der Blick wie ein Adler. Sie ist auf der Jagd. Da! Ein Fehler der Maschine, ein Kaugummi fehlt. Ihr Körper rührt sich kaum, nur die Augen, zack, die flinken Finger, schnell, das fehlende Dragee ist drinnen.

In der Schweiz gibt es eine einzige Kaugummifabrik und die steht neben einer Schokoladenfabrik. In Buchs bei Aarau in der Industrie. Es ist die Chewing Gum Division der Chocolat Frey AG, die der Migros gehört.

Ein grauer Morgen. Ein Bus, parkierte Autos, Menschen mit Umhängetaschen. Ein sonderbarer Geruch in der Luft. Ein Gemisch aus den Fabriken. Süss, künstlich, intensiv, man kann ihm nicht entrinnen. Im Rachen spürt man etwas. Es ist schwer zu sagen was, weil es weder kratzt, noch schmerzt. Auf alle Fälle ist man im Aargau. Dort, wo der Schweizer Kaugummi hergestellt wird. Und nebenan die Schokolade, nicht die einzige, aber eine gute, eine, die national mithält, ja gewiss, aber jetzt geht es um den Kaugummi, den Tschwingom, den die amerikanischen Soldaten, die GIs, in den Kriegsjahren hierher brachten und der die Gemüter erzürnte.

Orale Lustbefriedigung! Erotik und Sexualität. Ja, der Kaugummi brachte alles durcheinander, das kleine Ding, das man kaut und nicht schluckt. Man kaut draufherum wie die Azteken und die Mayas schon. Die kauten, um den Mund zu reinigen, den Durst und Hunger zu stillen, aber schon bei den Ureinwohnern verursachte die kaubare Masse Skandale. Das weiss die Nachwelt, weil ein spanischer Ethnograf aus dem 16. Jahrhundert alles aufgeschrieben hat. Kaute eine verheiratete oder eine verwitwete Frau in der Öffentlichkeit, galt sie als Prostituierte. Tat dies ein Mann, wurde er der Homosexualität bezichtigt.

Der kleine Kaugummi ganz gross. In den Geschichtsbüchern, in den Nachschlagewerken. Kauen, kauen, kauen. Seit Jahrtausenden, immer der Stimulation und manchmal der Mundhygiene wegen. So harmlos und doch schuldig, ganz schlimm. Der kleine Kaugummi. Der rüttelte an den Gesellschaftsstrukturen. Gender, Rollenverständnis, Revolte – er brachte die ganz grossen Themen auf.

Im Aargau ist der Kaugummi seit 1974 ein Star. Die Chewing Gum Division der Chocolat Frey AG feiert 2014 Geburtstag. Vierzig Jahre für den Schweizer Tschwingom. Die Skandale und Stigmata sind vergessen. Heute wird produziert. Fünftausend Tonnen pro Jahr. Die kleine Fabrik im Aargau mit ihren achtzig Angestellten ist Europas grösster Hersteller von Private-Label-Kaugummis – solchen, die als Eigenmarken der Detailhändler verkauft werden. Bei der Migros heissen sie Skai Airfresh, M-Classic Spearmint oder Candida Dental Gum Sensitive. In den Filialen von Walgreens und Whole Foods in Nordamerika heisst der Tschwingom aus Buchs Pür Gum.

Achtzig Prozent des Aargauer Kaugummis wird exportiert, in alle Himmelsrichtungen – von Buchs aus. Nach Spanien, nach Skandinavien, ja bis nach Australien. Und immer trägt er das wohl stolzeste Gütesiegel der Welt: Swiss Made. Dass es jemals soweit kommen würde, das hätte sich wohl kein Schweizer ausgemalt. Der Tschwingom aus Buchs ist das meist exportierte Produkt der gesamten Migros-Industrie.

Als die amerikanischen Soldaten in den 1940er-Jahren mit dem Tschwingom ankamen, war in der hiesigen Presse die Rede von einer anti-schweizerischen Rebellion. Der Tschwingom zusammen mit den Zigaretten, den Drinks, dem Swing, dem After-Shave und Rasierschaum aus der Tube, ja der ganze coole Plunder mit dem vielen «Sexappil», nein, das passte dem Schweizer nicht. Diese ganze Popkultur, die lässigen Konsumgüter, sie stellten zu viel in Frage: Die traditionellen Werte, das elitäre europäische Kulturverständnis, den herrschenden Arbeitsethos, die gängigen Moralvorstellungen, die Autoritaät des Schweizer Vaters überhaupt.

Alles durcheinander, weil einer in einer Uniform kaute. Er kaute und interessierte, er war so gelassen und charmant, er mit dem Tschwingom und den vielen Abzeichen. Der Tschonny und der Joe. Sie kauten für die roten Lippen der Schweizerinnen und die roten Köpfe deren Väter. Sie kauten, weil sie konnten. In God we trust. God bless America. Chew, chew, chew, der Tschwingom rollte in die Schweiz hinein. Dabei waren sie hier gern gesehen, die aufgeschlossenen GIs. Der Tschonny und der Joe. Am 25. Juli 1945 hiess die «Neue Zürcher Zeitung» die Soldaten, die im Rahmen der «Swiss Leave Tours» hierzulande Urlaub machten, willkommen. Auf Englisch, auf der Frontseite. Die Schweizer Redakteure schrieben: «Your visit to Switzerland is a unique experience, both for you, the proudest members of the greatest army in the history of mankind, as well as for us, citizens of a nation, which in the past always stood and often fought for the same ideals which made you cross oceans and deserts.»

Ja, so kamen sie. Die Amerikaner. Mit dem Tschwingom, den Präservativen, dem Swing, den farbigen Drinks und Cocktailgläsern. Ein grosses Tamtam. Die Schweizer waren überfordert – die älteren Generationen zumindest. Die Jungen freute es. Ein pensionierter Lehrer aus Zug erinnert sich an eine Kinderschar am Bahnhof, an einen Zug voller GIs, an «Tschwingom»-Rufe, an Tschwingom, der aus den Zugfenstern geflogen kam, an Schülerinnen und Schüler, die stundenlang, tagelang, ja wochenlang kauten.

In Zürich griff bald das Schulamt ein. Ein besorgtes Rundschreiben an die Eltern. Es gäbe ein ungünstiges und unrichtiges Bild der Nation, das Kauen, es sei des Schweizer Volkes unwürdig. An alle Eltern: Passen Sie bloss auf Ihre Kinder auf, sonst verwandeln die sich in Kaugummi, das geht ganz schnell, kauen und zack. Tschwingom.

Im Aargau feiert man 2014 also Geburtstag. Der Schweizer Kaugummi ist vierzig. Ein reifes Alter, Zeit für Investitionen. Die Produktionsanlagen werden ausgebaut, denn man will in Buchs die Kapazität verdoppeln, zehntausend Tonnen Tschwingom jährlich produzieren. Hektik, Stress, viele, viele Maschinen, keine Menschen, nur Metall und Kaugummi – so stellt man sich das vor.

Es ist laut. In einigen Abteilungen so laut, dass man zum Sprechen die Köpfe zusammenstecken muss. Um die Köpfe spannen sich Haarnetze. Über die Schuhe weisse Schutzhüllen, der Körper ist unterm weissen Mäntelchen. Überall eine weisse Schicht: auf den Bildschirmen, auf der Tastatur des Computers, auf dem Boden. Aromapulver, Süssstoff für den Schweizer Tschwingom.

Ein junger Mann, klein und kräftig, zieht mit seinen Händen eine mintgrüne Masse aus der Knetmaschine. 300 Kilogramm Spearmint-Tschwingom. Seine Hände und Unterarme greifen in die Masse, ziehen, packen. Die Substanz muss in einen Behälter. Der junge Mann atmet schwer. Er arbeitet ohne Handschuhe, weil laut Chocolat Frey AG regelmässig gewaschene und desinfizierte Hände mikrobiologisch gesehen sauberer sind als Gummihandschuhe.

Die Frau an der Walzstrasse arbeitet Milligramm genau. Sie hat dunkle Augen, die freundlich schauen. Vor ihr fahren mintgrüne Laibe vorbei. Manchmal packt sie einen und wiegt ihn. Dann fügt sie Zahlen in eine Tabelle ein, dreht an Knöpfen und tippt. Sie nickt dem Produktionsleiter beim Vorbeigehen zu. An ihren Händen klebt eine feine Schicht Pulver. Mikroskopisch kleine weisse Partikel auf der mediterranen Haut. Aroma für den Tschwingom aus Buchs. Mag sie überhaupt Kaugummi? Nach all diesen Laiben. Das fragt man sich so. Wenn man in der Kaugummifabrik im Aargau ist.

Am Ende der Walzstrasse werden aus den plattgewallten Laiben Dragees ausgestochen. Hier brennt das Menthol besonders in den Augen. Lady Gaga trällert aus den Musikboxen. Innert zwanzig Minuten wird der Kaugummi von 55 auf 18°C runtergekühlt. Die Stücke fallen in eine Trommel. Es klingt wie Kieselsteine in der Waschmaschine.

Eine zierliche Frau mit spitzer Nase füllt kleine Kisten mit einzelnen Dragees. Sie ist schnell. Nach 24 Sekunden ist ein Kistlein voll. Sie nickt, lächelt, lässt den Kaugummi nur kurz aus den Augen. Sofort greift sie zum nächsten Kistlein. Ist es halb voll, rüttelt die Frau daran, so dass sich die kleinen Tschwingoms ebenmässig verteilen. Platz machen für die vielen, vielen anderen, die noch folgen. Oh Tschonny. Und der Joe. Wenn die wüssten, wie die Schweizer heute tüchtig Tschwingom herstellen. Es würde sie freuen. Ein Millionengeschäft.

Dort in Buchs bei Aarau in der Industrie. Ein grauer Morgen. Ein Bus, parkierte Autos, Menschen mit Umhängetaschen. Die junge Frau auf dem alten Bürostuhl. Ihre Anmut, ihre Präzision. Wohin wandern ihre Gedanken, wenn die Kaugummiverpackungen an ihr vorbeiziehen? Nach Amerika? Dorthin, wo auch der Schweizer Tschwingom reist? Und woher mein Grossvater einst kam. Ein US-Soldat mit dickem, schwarzem Haar. Tiefbraunen Augen, sizilianischem Blut.

Der Tschonny aus Queens, New York. Er kam, um in Deutschland zu dienen. Um 1947 während einem dreitägigen Urlaub in Bern die «Tschwingom»-Rufe der Kinder mit Kaugummi zu belohnen. Um meine Grossmutter kennenzulernen. Die 21-jährige Marianne. Wie der Schweizer Tschwingom aus Buchs feiern auch meine Grosseltern 2014 ein Jubiläum. 65 Jahre Ehe.

Eine junge Frau ruht in einem abgenutzten Bürostuhl. Ihre tiefbraunen Augen folgen den Candida-Verpackungen, die gemächlich auf dem Laufband an ihr vorbeiziehen. Sie könnte einem Gemälde entsprungen sein.

Literaturhinweis
Bochsler, Regula (2006), Kaugummi und Swing. Die GIs erobern die Schweiz. In: Angelika Linke, Jakob Tanner (Hrsg.), «Attraktion und Abwehr. Die Amerikanisierung der Alltagskultur in Europa». Köln, Böhlau Verlag.

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